Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
Vom Netzwerk:
der Augsburger Puppenkiste die Illusion von Bewegung schufen, Fernweh eingeschlossen.
    Sie wollte gerade das Signal zum Aufbruch geben, als Inka Morgenroth sich doch noch meldete. Sie stellte sich vor und bat um ein Gespräch, ohne den Grund dafür zu nennen, sie wollte sie nicht verschrecken.
    »Gut, kommen Sie rauf.« Die Stimme war leise. »Aber bitte nehmen Sie die Treppe, ja?«
    Merkwürdiges Ansinnen, fand sie, und drückte die Tür auf, sobald der Öffner summte. Sie vertraute Fahrstühlen ohnehin nicht allzu sehr, also fügte sie sich, obwohl Arne sehnsüchtige Blicke zu der bereitstehenden Kabine warf. Als sie den ersten Absatz umrundete, bemerkte sie einen Paketboten, der hinter ihnen zur Tür hineingehuscht sein musste und nun in den Fahrstuhl sprang. Seine Beine waren so lang, dass er mühelos vier Stufen auf einmal erklimmen könnte. Nur kein Neid, dachte sie, vier Stockwerke würde sie ja wohl noch schaffen.
    Marilene konzentrierte sich aufs Stufenzählen, siebzehn mal vier, beugte sich übers Geländer und schaute kurz nach oben. Sie wurden beobachtet. Welche Angst dahinterstecken musste, das Ausmaß und den Grund dafür mochte sie sich nicht vorstellen, und für einen Moment erwog sie, umzukehren.
    Geht doch, dachte sie, als sie im zweiten Stock anlangten.
    Arne blickte sich nach ihr um. »Geht’s noch?«, erkundigte er sich.
    Sie nickte nur und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich zu keuchen.
    ***
    Plötzlich, wie aus dem Nichts, legte sich eine Hand über ihr Gesicht, sie versuchte, sie abzuschütteln, unwillig nur, doch es misslang, und jetzt stolperte ihr Herz einen wilden Galopp, und ihr gaben die Knie nach, schwach, so schwach, doch der Mann fing sie auf, umklammerte Oberkörper und Arme mit schraubstockähnlichem Griff. Wo kam er nur her, sie musste den Fahrstuhl überhört haben, wie dumm, wie unsäglich leichtsinnig von ihr. Er zerrte sie zurück in ihre Wohnung, und sie nahm das Leder seiner Handschuhe wahr und wie ihre Füße über den Boden schrubbten, bekam keine Luft mehr, einer Ohnmacht nahe, ohne Macht, ihre Hände flogen hinauf, reichten nicht an seine heran, schon war die Wohnungstür weit entfernt, sie sah sie wie durch einen Tunnel. Und auf einmal nahm er die Hand fort und sie konnte wieder atmen, könnte schreien, wenn sie nur genügend Luft bekäme, und dann ist die Balkontür offen, eisigkalt, doch sie friert nicht, wie seltsam, sie sieht sich zu, als stünde sie neben sich oder sei nicht länger von dieser Welt, folgerichtig, denkt sie, es hat so enden müssen mit ihr. Beinahe triumphiert sie bei dem Gedanken, dass sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte, sie wehrt sich nicht, als er sie nach draußen stößt, und auch nicht, als er sie auf die Balkonbrüstung hievt, woher nimmt er die Kraft, sie schließt ergeben die Augen und spürt, wie er ihr einen fast spielerischen Schubser versetzt, sie schreit nicht, nur ein winziger Seufzer entkommt ihren Lippen, und dann breitet sie die Arme aus und fliegt davon, ganz leicht, Sterben ist ganz leicht.
    ***
    Auf der obersten Stufe des dritten Stocks stolperte sie und stürzte hart auf Hände und Knie. »Trottel«, schimpfte sie, drehte sich herum und blieb sitzen.
    »Siehst du, wir hätten doch den Fahrstuhl nehmen sollen«, sagte Arne, kehrte um und hockte sich neben sie.
    Marilene zog die Handschuhe aus, begutachtete Finger und Handgelenke, gebrochen war schon mal nichts. Sie stützte sich ab und beugte vorsichtig ein Knie nach dem anderen, auch das funktionierte, war allerdings schmerzhafter, doch mehr als einen Bluterguss würde sie wohl nicht davontragen, hoffte sie, und rappelte sich mühsam auf.
    Arne hob ihre Tasche vom Boden. »Die nehm ich«, bestimmte er, klemmte sie sich unter den linken Arm und wies sie mit dem rechten an, vorzugehen. »Weißt du, was noch cooler als ein Fahrstuhl wäre?«, fragte er.
    »Raketenantrieb?« Marilene war nicht sicher, inwieweit die Frage rhetorisch gemeint war.
    »Na ja gut, darüber könnte man reden, aber was ich meine, ist ein Treppenlift. Hab ich in der Zeitung vom ADAC gesehen.«
    Vielen Dank für das Kompliment, dachte sie und ignorierte den inspirierenden Vorschlag. »Wieso liest du so was? Es dauert noch ein paar Jahre, bis du auch nur an deinen Führerschein denken kannst.«
    »Lag auf dem Küchentisch. Du, Marilene?«
    »Ja?«
    »Brauchen alle alten Menschen Windeln?«
    Sie verschluckte sich und musste husten. Er hatte so ernsthaft geklungen, dass sie annahm, er

Weitere Kostenlose Bücher