Spur nach Ostfriesland
Rückzieher gemacht. Und dann war es so einfach gewesen. Fast, als hätte sie auf ihn gewartet. Warum nur hatte sie sich nicht gewehrt? Müßig, darüber nachzudenken. Ab jetzt würde er auch mit Widerstand umgehen können. Kein Problem. Er fühlte sich großartig. Konnte man gar nicht anders sagen.
Der Rettungswagen bog in die Einfahrt zum Krankenhaus. Und steuerte die Notaufnahme an. Eine Finte also. Hatte er es doch gewusst. Sie mochten glauben, damit durchzukommen, doch da täuschten sie sich. Er ließ sich nicht hinters Licht führen, er nicht!
***
Du bist nicht mein Bruder. Ich habe keinen. Oder doch? Hab ich dich bloß vergessen? Wie kann man einen Bruder vergessen. Was du sagst, hört sich real an. All die Geschichten. Ich kann mich an keine erinnern. Alles weg. Deine Stimme ist schön. Daran müsste ich mich doch erinnern. So sanft. So freundlich. Ich könnte wetten, du lächelst. Das tut gut. Ein Lächeln. Sogar, wenn man es nur hört. Sorg dich nicht. Es geht mir gut. Glaube ich. Ich habe keine Angst. Vorm Sterben nicht. Sowieso. Vorm Leben auch nicht. Jedenfalls nicht mehr so sehr. Das ist doch was.
Nur wenn der Schmerz kommt, dann hab ich schon Angst. Er kommt mit Messern. Vielen Messern. Erst kitzeln sie fast. Wie zur Probe. Um die richtige Stelle zu finden. Und dann stechen sie zu. Alle auf einmal. Ohne Gnade. Bis jemand sie rauszieht aus mir. Eins nach dem anderen. Und der Schmerz ist weg. Fast weg. Wie ein eingesperrtes Tier. Mein Bruder. Bleib. Ich weiß nicht, wie viel von mir kaputt ist. Bleib, bis wir es herausfinden. Du könntest meine Hand halten. Gegen den Schwindel. Zum Beispiel jetzt. Ich komm nicht dagegen an. Allein. Weiß nicht, ob ich zulassen soll, dass er mich davonträgt. Nur Schlaf? Aber es könnte auch für immer sein. Und ewig.
10
Marilene bog in die Bergmannstraße ein und fand auf Anhieb einen Parkplatz am Straßenrand. Wochentags in Wiesbaden ein Ding der Unmöglichkeit, und das allein schon wäre den Umzug wert. Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen, bevor sie ausstieg. Es half nichts. Sie war aufgeregt, hatte kaum geschlafen, sich hin- und hergewälzt, dass ihr Laken heute Morgen das reinste Knäuel gewesen war, und immerfort gegrübelt, ob die Entscheidung fortzuziehen richtig war. Beruflich konnte eigentlich nicht viel schiefgehen, wäre Lothar nicht, hätte sie womöglich längst schließen müssen, und eine eingesessene Kanzlei zu übernehmen versprach mehr Erfolg, als ihr bisher beschieden war.
Der persönliche Aspekt allerdings stand auf einem anderen Blatt. War es richtig, alle Brücken hinter sich abzureißen, und dieses Mal vollständig? Ihr war durchaus bewusst, dass sie viel zu sehr in ihrer Rolle als Ersatz-Mutter aufging, einer Rolle, die ihr nicht wirklich zukam. Marie hatte sich, seit sie ihre Lehre machte, zu einer sehr selbstständigen, fast erwachsenen Person entwickelt und brauchte sie nicht. Dass Niklas bei ihr wohnte war lediglich ein vorübergehender Notbehelf, so sehr er ihr fehlen würde, wenn er in ein paar Monaten auszöge. Aber Arne, das ging tiefer. Ihn würde sie ernsthaft vermissen, und sie wusste nicht, ob sich die Entfernung allein mit Telefon und Internet überbrücken lassen würde. Aber gut, versuchte sie, ihre Trennungsängste zu beschwichtigen, wozu gab es schließlich Schulferien.
Natürlich wäre es schön und vor allem auch vorausschauend, in der Nähe ihres Vaters zu wohnen. Er war zwar erst achtundsechzig und topfit, soweit sie das beurteilen konnte, doch das würde sich irgendwann ändern. Er hatte nicht darüber gesprochen, was hinter seinem neuerlichen Umzug steckte, ob er, wie sie vermutete, wirklich eine Frau kennengelernt hatte oder ihm Ditzum zu klein geworden war, er sich nach etwas Neuem umgesehen hatte und in Wiesmoor rein zufällig auf das richtige Haus gestoßen war. Und sie hatte nicht über den Grund ihres Besuchs gesprochen. Als hätte er ihr je in ihre Entscheidungen hineingeredet. Gleichwohl hatte sie das Bedürfnis verspürt, vollkommen unbelastet in dieses Gespräch zu gehen.
Und genau das würde sie jetzt tun. Sie stieg aus dem Wagen und machte sich auf die Suche nach der richtigen Hausnummer. Sie hatte schon am Samstag vorbeischauen wollen, doch nach dem Mordversuch an Inka Morgenroth hatten ihre Nerven blank gelegen, so sehr, dass sie nicht mal den von Lübben erwähnten Zahnarzt aufgesucht hatte, um vielleicht von ihm mehr über Inka zu erfahren. Sehr untypisch für sie, und Hartmann würde
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