Spur nach Ostfriesland
ihr sicherlich nicht glauben. Doch wenn sie sich vorstellte, was passiert wäre, wenn sie dem Täter in die Arme gelaufen wären – nein, sie schauderte, sie würde sich ab sofort aus den Ermittlungen heraushalten, zumal Katharinas Mann jetzt wohl nicht mehr im Fokus stand. Der Rest ging sie nichts an.
Sie strauchelte auf dem unebenen Pflaster und kletterte über den Wall schmutzigen Schnees auf den Bürgersteig. Weiter vorn stürzte jemand, rappelte sich jedoch sofort wieder auf. Irgendetwas an dem Mann erinnerte sie an Lothar, aber das war natürlich kompletter Blödsinn. Eine schrille Fahrradklingel gellte, und sie fuhr erschrocken herum, konnte gerade noch zur Seite springen, um den Radfahrer vorbeizulassen, der in die Pedale trat, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Als sie wieder nach vorn sah, war der Mann verschwunden.
Hier war es. Das rot verklinkerte Haus stand etwas zurückgesetzt und hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel, wie die heute nicht mehr üblichen hohen Fenster verrieten. In einem Beet an der Hauswand hatten sich Sträucher unter der Schneedecke verkrochen, und mittendrin stand ein alter Baum, der Stamm dicht mit Efeu bewachsen, und reckte seine kahlen Äste gen Himmel, ein ganz passabler Ersatz für die Linde vor ihrem Büro in Wiesbaden. In der langen Einfahrt war ausreichend Platz für mehrere Fahrzeuge hintereinander, und obendrein gab es noch Kundenparkplätze. Sie atmete noch einmal tief durch und ging hinein.
»Moin, Sie müssen Frau Müller sein.« Ein großer, sich sehr gerade haltender Mann von etwa Ende sechzig kam mit ausgestreckter Hand und breit grinsend auf sie zu. Sein schlohweißes dichtes Haar stand in unmöglichen Zipfeln wild vom Kopf ab, und Nickelbrille, schwarze Jeans und Tweedjackett komplettierten das Bild eines zerstreuten Professors.
»Stimmt«, sagte Marilene und erwiderte den Händedruck, »dann sind Sie Herr Spieker. Freut mich.«
»Kommen Sie herein«, bat er und führte sie am verwaisten Empfang vorbei in sein Büro.
Der Raum glich eher einer Bibliothek, befand sie, drei Wände waren bis zur hohen Decke von prall gefüllten Bücherregalen verborgen, Fachliteratur im Wesentlichen, auch wenn ihr ein ledergebundener Schiller und ein Schuber Goethe ins Auge fielen. Sie wusste nicht, ob sie hoffen sollte, dass er den Plunder mitnahm oder ihn ihr überließ, die leeren Regale jedenfalls würde sie nicht mal mit ihrer Krimisammlung füllen können. Ein ausladender Schreibtisch aus sehr dunklem, wie frisch poliert wirkendem Holz beanspruchte beträchtlichen Raum, und in der Ecke neben dem Fenster boten zwei lederne Ohrensessel Platz für Besucher. Oder für ein Mittagsschläfchen.
»Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?«, fragte er.
»Gern.« Marilene legte ihre Tasche ab, drehte sich um und ließ sich helfen – eine ungewohnte Geste, die ihr nur noch beim Friseur unterkam, wo sie sie stets zu vermeiden suchte.
»Nehmen Sie Platz«, forderte er sie auf und wies auf die Sessel, bevor er ihre Jacke hinausbrachte.
Das Leder knarzte behaglich, als sie sich setzte, den Kopf gegen die Wange des Sessels lehnte und zum Fenster hinausschaute. Genau auf den Baum. Ein Ort zum Träumen. Wenn überhaupt sollte es dieses Büro sein, sonst würde sie in Wiesbaden bleiben, bei ihrer Linde. Wieder flößte ihr das Vorhaben, alles und jeden hinter sich zu lassen, eine ungeheure Angst ein. Dabei war das doch der Sinn der Übung.
Das ewige Dilemma mit Jens, die nicht mal Freundschaft zu nennenden Beziehungen zu Katharina und Patrizia, ihr Ersatzmutter-Dasein, das ihr nicht nur zunehmend aufdringlich vorkam, sondern selbstsüchtig war, gestand sie sich ein. Und natürlich die Erinnerung an Felix, die sie noch manchmal überfiel. Nicht wenn er im Fernsehen auftauchte, darauf war sie vorbereitet, aber dann, wenn sie am wenigsten damit rechnete, konnte schon der Geruch des Rasierwassers eines Fremden ausreichen, um sie hinterrücks niederzustrecken vor Trauer um das, was hätte sein können.
Sie hatte einen Neuanfang wagen wollen. In jeder Hinsicht. Je länger sie darüber nachgedacht hatte, desto sicherer war sie sich geworden. Wie töricht, nun doch zurückzuschrecken. Und das wegen eines Baumes?
»Eine Linde«, sagte Spieker in ihre Gedanken hinein. »Ein prächtiges Farbenspiel, wenn sie ihr Laub trägt und die Sonne scheint.« Er balancierte ein Tablett, auf dem sich Teekanne samt Stövchen und Tassen befanden, und stellte es auf den Tisch zwischen den beiden
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