Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
Vom Netzwerk:
folgen, ein Jäger, der seiner Beute auflauert.
    Marilene verscheuchte die morbiden Gedanken und konzentrierte sich auf jeden unmittelbaren Schritt, versuchte, in die Fußstapfen des Mannes vor ihr zu treten, doch er hatte die längeren Beine. Ein ums andere Mal versank sie knietief im Schnee, und die Kälte kroch unerbittlich bis ins Mark. Nicht mal Handschuhe hatte sie bei sich. Sie stopfte die bereits gefühllosen Hände in die Taschen ihres Mantels und verlor prompt das Gleichgewicht, strauchelte und fing sich wieder, nur nicht stürzen, beschwor sie sich. Sie bezweifelte, dass Jens ihr helfen würde, diesmal nicht, sein Schweigen war beredt wie nie, und sie vermeinte, seinen wutschnaubenden Atem heiß in ihrem Nacken zu spüren.
    Sie merkte nicht, dass Gentner stoppte, um sich zu orientieren, und lief beinahe in ihren Vordermann hinein. Der gesamte Tross blieb stehen, leicht vornübergeneigt, wie Dominosteine kurz vor dem Umsturz, ein Windhauch würde genügen, sie von den Füßen zu holen. Gentner wies mit erhobener Hand nach halb rechts, und sie nahmen ihren Marsch wieder auf, eine Blechbüchsenarmee mit ungewissem Ziel.
    Nach einer Weile wurde es eine Spur heller, und sie erreichten eine Lichtung. Darauf stand, oh Wunder, an das sie schon nicht mehr geglaubt hatte, die Jagdhütte. Marilene hatte sich eher eine Art ausgebauten Hochstand vorgestellt, nicht dieses komfortabel wirkende Blockbohlenhaus mit seinen von grün gestrichenen Läden verschlossenen Fenstern und umlaufender Veranda. Im Sommer mochte es ein Paradies sein, doch bei diesen Temperaturen war schon die Expedition hierher eine Zumutung. Daran änderte auch der Wärme verheißende Schornstein auf dem Dach nichts. Strom, nahm sie an, würde es hier wohl kaum geben, fließendes Wasser ebenso wenig, das verriet der Holzverhau zehn Meter hinter dem Haus, in dem sie ein Plumpsklo vermutete.
    Sie versammelten sich auf der Veranda, und Gentner zerrte mit großer Geste einen Schlüssel unter ungezählten Lagen seiner Kleidung hervor. »Wenn die Herrschaften sich bitte die Schuhe ausziehen würden«, ersuchte er sie und beobachtete mit milder Belustigung ihre Unbeholfenheit. Auf einem Bein schwankend, versuchten sie, mit abgestorbenen Händen die Stiefel von den Füßen zu zerren, bevor er die Tür öffnete und sie an sich vorbei ließ.
    Franziska war nicht hier, dessen war Marilene sich gewiss, sonst wäre Gentner nie und nimmer derartig gelassen. Wenn sie wirklich noch lebte, musste sie sich anderswo befinden, und falls sie tot, womöglich hier umgekommen war, würden sie ihre Leiche niemals finden, zumindest nicht vor dem Frühling.
    »Licht?«, erkundigte einer der Polizisten sich wortkarg.
    Gentner deutete auf fünf Öllampen, die auf einem Brett standen. Marilene kramte ihr Feuerzeug hervor und zündete sie alle an, zitternd vor Kälte. Es war hier drin kaum wärmer als draußen, aber das gelbliche Licht schuf wenigstens die Illusion von Wärme.
    »Wann waren Sie das letzte Mal hier?«, fragte Hartmann und hielt sie beide im Windfang zurück, während die Polizisten Schutzkleidung überstreiften und im Innern des Hauses verschwanden. Sie ließen nur eine der Lampen zurück.
    »Vor einer Woche.« Gentner gab sich nachdenklich. »Doch, stimmt, ich habe mit einem Freund das Wochenende hier verbracht.«
    »Mit Ihrem Schachkumpel?«
    »Ja, genau.«
    »Um zu jagen«, konstatierte Hartmann.
    »Wo denken Sie hin? Nein, dafür ist Sönke zu zartbesaitet. Wissen Sie, ein Aufenthalt in dieser Hütte ist Urlaub vom Alltag. Wenn es zeitlich nicht für große Touren reicht, dann gibt es kaum etwas Besseres, als hier völlig abzuschalten. Man wird durch nichts abgelenkt, niemand stört, es ist ein ruhiges, einfaches Leben, und sei es nur für zwei Tage.«
    »Damenbesuch inbegriffen?«, fragte Hartmann.
    »Auf gar keinen Fall«, entgegnete Gentner und grinste verschwörerisch Richtung Hartmann. »Meine Anwältin ist die erste Frau, die hineindarf.«
    Auf das zweifelhafte Vergnügen hätte sie gern verzichtet, sie fror in ihren nassen Strümpfen und wollte nur noch nach Hause, möglichst bevor es vollkommen finster und der Rückweg zu einem unkalkulierbaren Risiko wurde.
    »Jens?«, rief einer der Polizisten. »Kommst du mal?«
    »Sofort.« Er schien ähnlich entzückt wie nach dem Fund der Waffe, zog Überschuhe und Handschuhe an und ging in den Wohnbereich.
    Marilene wagte einen Blick um die Ecke. Der Wohnraum war groß und, wenn der gusseiserne Herd oder der Kamin

Weitere Kostenlose Bücher