Spur nach Ostfriesland
Häubchen zur Schau wie vormals reifes Obst. Bergan, hinter den Bahnschranken, lag der Schnee auf dem Wald wie eine schwere Plane, unter deren Last die Äste nachzugeben drohten. Er vermeinte, ihr Ächzen, wenn nicht hören, dann doch spüren zu können, und selbst das klotzige Hotel zur Linken wirkte wie ein verwunschenes Märchenschloss, na gut, Schloss – von Märchen konnte keine Rede sein.
Man müsste am Wochenende rausfahren, falls das Wetter hielt, dachte er, und sah sich schon johlend einen Abhang hinunterrodeln, aber der Schlitten stand noch bei Jutta im Keller, war vermutlich längst verrostet, der letzte winterliche Familienausflug Jahre her, und wenn Jan übermorgen von der Klassenfahrt heimkäme, hätte er von Schnee ohnehin die Schnauze voll, nahm er an. Sein Handy klingelte, und er kramte es umständlich aus der Manteltasche hervor, erkannte die Nummer seines Büros auf dem Display und drückte den Anruf weg. Was immer es war, konnte warten.
Eine Viertelstunde später, die Schneeschicht war zur Stadt hin immer dünner geworden, bis sie, als seien die Straßen beheizt, an der Grenze restlos verschwunden und grauem, schlierigem Schlick gewichen war, stellte er seinen Wagen auf dem Parkplatz hinter dem Präsidium ab. Er musste zahllosen öligen Pfützen ausweichen, die kurz vor der Zusammenrottung zu einem See bedrohlichen Umfangs standen, bis er das Gebäude erreichte und die Treppen in den dritten Stock erklomm.
Unterwegs entledigte er sich seines Mantels, ganz bestimmt kein Zeichen für körperliche Schwäche, beruhigte er sich, schließlich geriet er kaum ins Keuchen, die Luft war einfach abgestanden, stank nach nassen, zu selten gereinigten Mänteln und nach Angst, und beinahe wäre ihm der Stapel Unterlagen aus der Buchhandlung entglitten, alle Ordnung beim Teufel. Statt anzuklopfen, trat er leicht mit der Schuhspitze gegen die Tür, bevor er mit dem Ellenbogen die Klinke herunterdrückte und sein Büro betrat. Zwei Gesichter wandten sich ihm zu, und beide zeigten den gleichen Ausdruck gespannter Erwartung. Er ignorierte sie, legte die Unterlagen auf seinem Schreibtisch ab und schlenderte gemächlich zum Garderobenständer, um seinen Mantel aufzuhängen. »Und?«, fragte er ungerührt.
»Es gab einen Anruf«, sagte Patrizia kryptisch.
Paul schien zu merken, dass er keine Lust auf Spielchen hatte. »Frau Martens hat uns informiert, dass Frau Gentner im Namen ihres Mannes ein Buch bestellt hat.« Er suchte nach der entsprechenden Stelle in seinem Notizbuch.
»Um ›Entführung für Anfänger‹ dürfte es sich wohl kaum handeln«, griff er den früher gesponnenen Faden wieder auf.
»Nein«, kam Patrizia Paul zuvor, »es handelt sich um ›In seiner Hand‹ von Nicci French.«
»Sagt mir nichts.«
»Es ist ein Roman«, erläuterte Patrizia, »und handelt von einer jungen Frau, die entführt und böse gefoltert wird, aber sie kann entkommen. Nur glaubt ihr niemand, und so macht sie sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter.«
Es war eine Inszenierung, dachte Hartmann, aber den Grund dafür konnte er sich ums Verrecken nicht vorstellen.
»Vielleicht kriegen wir jetzt eine Überwachung durch«, spekulierte Zinkel halbherzig.
Hartmann nickte bedächtig. »Kriegen wir nicht«, widersprach er seiner Kopfbewegung, »aber es wäre sicher genau das, was Gentner bezwecken will.«
»Aber warum? Will er den Verdacht von jemand anderem ablenken? Petersen vielleicht?«, überlegte Patrizia.
»Von einer Fährte ablenken, der wir noch nicht einmal auf der Spur sind?« Hartmann zuckte mit den Achseln. »Genauso gut wäre es möglich, dass er lediglich die zufällige Gelegenheit nutzt, um uns vorzuführen. Nach dem Motto: ›Die stellen mir blöde Fragen? Die werden schon sehen, was sie davon haben.‹ Trau ich ihm zu.«
»Kriegen wir den klein?« Zinkel umklammerte die Tischplatte, als ginge es ums Kleinholz. »Packt der aus, wenn wir ihn vorladen? Wegen Irreführung der Justiz oder was weiß ich?«
Hartmann und Patrizia schüttelten synchron die Köpfe.
»Wir haben nichts in der Hand.« Hartmann nahm seine übliche Wanderung auf. »Er macht sich auf eine eigentlich ziemlich simple Art verdächtig. Er weiß nicht, dass wir an seinem Alibi zweifeln, vielleicht würde er sonst schlagartig die Strategie wechseln, aber ich würde nicht darauf wetten. Er ist zu selbstsicher, von daher vermute ich, dass er tatsächlich nichts mit dem Fall zu tun hat. Trotzdem müssen wir ihn ernst nehmen. Es
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