Spur nach Ostfriesland
bislang keine Leiche gefunden wurde? Das heißt doch nichts. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Menschen verschwinden, ohne jemals wieder aufzutauchen, Verbrechen oder nicht. Im Krimi ist das anders, da ist die Leiche der Anlass, jedenfalls meistens – und dabei fällt mir ein, dass heute etwas Merkwürdiges vorgefallen ist, und dein Hartmann weiß auch schon davon.«
»Er ist –« Sie schluckte die Erwiderung abermals herunter. »Erzähl.«
»Frau Gentner hat im Auftrag ihres Mannes das Buch ›In seiner Hand‹ von Nicci French bestellt. Hast du auch gelesen, oder?«
»Das ist doch bescheuert«, entfuhr es Marilene. Sie konnte sich noch gut an das Buch erinnern. »Wenn er etwas damit zu tun hat, warum sollte er uns das auf die Nase binden? Und wenn nicht, gilt dasselbe. Da komme ich nicht mehr mit.«
»Ich auch nicht. Aber das Buch passt überhaupt nicht zu seinen sonstigen Lesegewohnheiten, bislang hat er politische Sachbücher oder Managementzeugs gekauft, wenn mal Belletristik dabei war, dann handelte es sich um Klassiker. Über die er liebend gerne mit mir diskutiert hätte. Nur bin ich da leider nicht so wahnsinnig bewandert und habe mich herausreden müssen, dass das schon zu lange her sei, als dass ich mich erinnern könnte. Einerseits will er immer eine gemeinsame intellektuelle Ebene herausstreichen, und gleichzeitig verhält er sich wie ein strebsamer Schüler, der von seiner Lehrerin gelobt werden will. Schon ein schräger Typ irgendwie …« Sie ließ den Satz verklingen.
»Schräg vielleicht, aber das ist doch weit entfernt von dem, was ich mir unter einem Täterprofil vorstelle. Bis auf dieses Buch natürlich. Kannst du dir vorstellen, dass er einer von denen ist, die gefasst werden wollen?«
»Ach«, Katharina machte eine wegwerfende Handbewegung, »diese Theorie halte ich für ein bloßes Klischee. Ein Soziopath ist Gentner bestimmt nicht, er hat nichts Feindseliges an sich und wirkt gesellschaftlich viel zu gut eingebunden. Ein Psychopath, Gott, woher soll ich das wissen. Es heißt, dass einen Psychopathen das Fehlen jeglichen Mitgefühls auszeichnet. Wenn einer kein Mitgefühl hat, nehme ich an, hat er auch kein schlechtes Gewissen. Warum sollte er dann gefasst werden wollen?«
»Klingt logisch«, warf Marilene ein.
»Was schon eher hinkommen könnte, wenn es sich nicht überhaupt nur um Zufall handelt, ist, dass er bewusst in die Irre führen will, einfach so zum Spaß. Oder vielleicht will er sich rächen, weil es ihm nicht gepasst hat, dass oder wie die Polizei ihn befragt hat. Ein billiges Vergnügen, denn schließlich hat er nichts zu befürchten, weil er ja nichts getan hat. Oder er hegt einen alten Groll gegen die Obrigkeit …«
Ein neuer ist ungleich wahrscheinlicher, wenn Hartmann ihn befragt hat, fuhr Marilene gedanklich dazwischen.
»… weil er in grauer Vorzeit bei einer Demo verhaftet wurde. Ich glaube, es gibt viele Menschen, die sich die Gelegenheit, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen, nicht entgehen lassen.«
»Schon«, gab Marilene zu und bemühte sich, nicht allzu schuldbewusst dreinzuschauen, »aber doch nicht, wenn es um ein Menschenleben geht.«
»Stimmt auch wieder.« Katharina drückte frustriert ihre Kippe aus. »Dann ist er eben doch ein Psychopath«, sagte sie heftig und stand auf, »als wenn es auf einen mehr oder weniger ankommt. Ich will doch nur, dass Franziska unversehrt wieder auftaucht und dass mein Mann nicht länger verdächtigt wird, und zwar sofort. Aber deswegen kann ich nicht mit wilden Anschuldigungen hausieren gehen. Ich kann überhaupt nichts tun, und das geht mir mächtig auf den Keks.«
»Du hast getan, was du tun konntest«, versuchte Marilene, sie zu beschwichtigen. »Dass Hartmann deine Theorie, der Täter habe Franziska ausspioniert, in Erwägung zieht, ist fast mehr, als ich erwartet habe, und es zeigt doch auch, dass er gegen deinen Mann nicht wirklich etwas in der Hand hat.«
»Wenn du meinst …«
»Ich bleib dran«, versprach Marilene und stand auf, »mehr können wir im Moment wirklich nicht tun.«
Katharina stand im Türrahmen und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Gentner«, flüsterte sie.
Marilene trat zu ihr und lauschte ebenfalls.
»Ich wusste nicht, dass meine Frau ein Buch bestellt hat. Was ist es denn für eins?«
»›In seiner Hand‹«, antwortete Marie. »Es trifft aber erst morgen ein. Wenn Sie einen Moment warten, kann ich gucken, ob es lieferbar ist.«
»Ich bitte darum.«
Was hat
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