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Spur nach Ostfriesland

Spur nach Ostfriesland

Titel: Spur nach Ostfriesland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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starren, ohne durchzudrehen? Und wie viele Gedanken denken? Sie wusste, dass sie sich bewegen müsste, sie nahm zwar ganz bestimmt nicht zu, als wäre das noch wichtig, aber ihre Muskeln würden ihr nicht gehorchen, wenn es je zu einer Konfrontation käme. Hätte sie die Kraft, den Mut? Ja klar, höhnte ihre innere Stimme, als wärst du selbst in fittem Zustand einem Kampf gewachsen, womit denn, hä? Warum eigentlich geriet sie nicht in Panik, so richtige herzjagende Panik? Das Adrenalin würde ihr Kraft verleihen, oder waren das die Endorphine? Nein, die waren fürs Glück zuständig, auch so was, das ihr abging. Sie war lethargisch. Und schlaflos.
    Irgendwie passte das nicht zusammen. Am Licht allein konnte es eigentlich nicht liegen. War also doch was im Essen? Eine geheimnisvolle Substanz, eingebacken ins Brot, so wie andere Haschplätzchen buken, oder war es das Wasser? Sie würde nichts mehr essen. Ihr Magen knurrte. Verräter, dachte sie, mir so in den Rücken zu fallen. Vielleicht gäbe es gar nichts mehr zu essen, überlegte sie, denn bisher war es ja immer dunkel gewesen, wenn man ihr etwas gebracht hatte. Und wenn nun bei Licht jemand käme?
    Nicht weiterdenken, befahl sie sich, du brauchst nur die Augen zu schließen, sobald du jemanden an der Tür hörst, dann wird dir nichts passieren. Das war der Vorteil von Büchern: Man las, was man in bestimmten Situationen zu tun hatte. Na ja, ein Nachteil war es schon auch. Man wusste, was alles passieren konnte.
    Warum war sie eigentlich nicht längst tot? Oder wenigstens vergewaltigt? Jetzt drehst du ja wohl völlig ab, schimpfte sie. Andererseits würde das am meisten Sinn ergeben, erst vergewaltigt, dann tot, das war die logische Reihenfolge von so was, damit brauchte man auch nicht so lange zu warten, bis … was? Moment mal, da gab es doch dieses Stockhausensyndrom, nein, das war was mit Musik, Stockholm, das war es. Ging es darum? Eine perverse Form von Gehirnwäsche, bis sie sich mit ihrem Entführer identifizierte, in ihr Schicksal fügte? Scheiß Schicksal, dachte sie, ich glaube doch gar nicht an so was. Sie ließ sich ermattet zurücksinken und wünschte, sie könnte wenigstens weinen, aber irgendwie waren ihr auch die Tränen abhandengekommen.
    ***
    Erkenntnis, dachte er. Es hatte länger gedauert als bei den anderen, aber nicht so viel, als dass es wesentlich ins Gewicht fiel. Die Frage war, ob der Plan bei ihr aufgehen würde. Er hoffte es. Dann wäre der Weg frei für die wirklich interessanten Fälle, die echten Herausforderungen. Er war die allzu leicht beeinflussbaren Frauen so leid. Sie gaben sich so selbstsicher, so cool, aber sobald ihnen ihre vertraute Umgebung genommen wurde, zerbröckelte alles, was sie an Fassade aufgebaut hatten, zu einem bedeutungslosen Häufchen Staub. Sie wurden zu leeren Gefäßen, die sich beliebig füllen ließen.
    Dennoch war es faszinierend zu beobachten, wie ein neuer Mensch das Leben des alten wieder aufnahm, als wäre nichts geschehen. Wie lange würde das gut gehen, ohne dass er die Sache beenden müsste? Wie tief ging die Veränderung, und welche Schlüssel gab es, um eine Umkehr zu verhindern? Denn er wollte mehr. Er wollte die wirklich Selbstsicheren, die gestandenen Frauen, die sich so leicht nichts vormachen ließen, die Schnippischen, die Rücksichtslosen, die Intellektuellen vor allem. Ihren Geist nicht brechen, nein, das wäre zu einfach, jeder Geist ließ sich brechen, das war allein eine Frage der Mittel. Was er wollte, war biegen, umformen, so wie sich aus einer geraden Linie ein Kreis formen ließ, ein Kreis, der doch immer, ohne es zu wissen, eine Linie blieb. Eine neue Identität schaffen, die der alten äußerlich aufs Haar glich.
    Sie war der perfekte Testlauf. Noch nicht ganz gefestigt in ihrer Persönlichkeit, aber doch schon eigensinnig genug, dass sich an ihr herausfinden ließ, ob er einer bloßen Chimäre hinterherjagte oder auf dem richtigen Weg war.
     

8
    Paul Zinkel sprang die Stufen hoch, den strauchelnden Trolley hinter sich herzerrend, und schon schlug die Tür hinter ihm zu. Den Anschlusszug nach Leer zu verpassen und in Köln zu stranden hätte ihm den Tag, noch bevor er richtig begonnen hatte, restlos verdorben. Blödsinnige Dienstreise, die Hartmann ihm hier aufgedrückt hatte. Zu nachtschlafender Zeit hatte er aufstehen müssen, um den ICE zu erwischen, hatte die Zeit bis Köln im Halbdämmer verbracht und versuchte nun, den Adrenalinspiegel und seinen keuchenden Atem

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