Spuren des Todes (German Edition)
vor uns, so viel konnte man bereits erkennen. Sie lag auf dem Rücken, ihre Konturen waren freigelegt. Die Polizisten hatten, bevor ich eingetroffen war, das Erdreich vorsichtig Schicht für Schicht abgetragen. Sie wussten, was sie erwartete – nur nicht, wie tief sie die Grube ausheben mussten, um auf den Leichnam zu stoßen. Damit wir ihm jetzt mit den Schaufeln keine neuen Verletzungen zufügten, nahmen wir unsere Hände, die in Handschuhen steckten, um ihn komplett freizulegen.
Viel zu klären gab es für mich vor Ort nicht. An eine Bestimmung der möglichen Todeszeit war nicht zu denken, dafür lag die Leiche bereits zu lange dort. Der Körper der toten Frau befand sich mittlerweile in einem fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis.
Die sogenannten späten Leichenveränderungen beginnen mit der Autolyse. Diese setzt unmittelbar nach Eintritt des Todes ein. Dabei zersetzen sich die Körperzellen praktisch selbst, bewirkt durch körpereigene Enzyme. Das Ganze geschieht also von innen heraus, ohne Beteiligung körperfremder Organismen oder irgendwelcher Bakterien. Durch die autolytischen Prozesse brechen die Abwehrmechanismen endgültig zusammen, wodurch die Einwanderung von Mikroorganismen begünstigt wird, die nunmehr einen idealen Nährboden vorfinden.
Für die Fäulnisvorgänge spielt die Umgebungstemperatur eine maßgebliche Rolle. Zusätzlich beeinflussen Sauerstoffgehalt und Ausmaß der bakteriellen Besiedlung des Körpers die zeitlichen Verhältnisse. Als grobe Faustregel gilt, dass Fäulnisprozesse bei einer Leiche an der Luft doppelt so schnell ablaufen wie im Wasser und achtmal schneller als bei einer, die wie die Frau in der Erde vergraben wurde.
Äußerlich sichtbar werden die Vorgänge im Körper meist zuerst im rechten Unterbauch, wo sich die Haut grünlich verfärbt. Dort wird der Dickdarm gewöhnlich am meisten gasgebläht und liegt dann an der Bauchwand an. Das Fäulnisgas Schwefelwasserstoff diffundiert durch die Bauchwand und verursacht die Grünfärbung. Im weiteren Verlauf verfärbt sich die Haut dann auch an anderen Körperpartien, und das Venennetz beginnt durchzuschimmern. Die nächste Stufe zeichnet sich durch eine Aufblähung der Körperhöhlen und Weichteile ab, was durch typische Fäulnisgase wie Ammoniak und Schwefelwasserstoff, aber auch durch Methan, Stickstoff und Kohlendioxid verursacht wird, die sich im Inneren bilden. Aus Mund und Nase tritt Fäulnisflüssigkeit aus, die von Laien meist für Blut gehalten wird, aber keines ist. Auf der Haut bilden sich Fäulnisblasen, die mit einer schmutzig-rötlich-bläulichen oder grünlichen Flüssigkeit gefüllt sind. Später beginnt sich die Haut abzulösen, Haare und Nägel lassen sich leicht herausziehen … So geht es weiter, bis der Körper ins Stadium der Verwesung eintritt. Wobei sich Fäulnis und Verwesung teilweise parallel vollziehen. Bis irgendwann nur noch das Skelett übrigbleibt. Liegt eine Leiche im Freien, vergehen bis dahin mehrere Monate bis Jahre. Unter der Erde dauert es entsprechend länger. Das hängt unter anderem von der Luftdurchlässigkeit der Erde ab, die bei lehmigen und tonigen Böden nicht selten extrem eingeschränkt ist und zu sogenannten Fettwachsleichen führen kann, die selbst nach dreißig oder vierzig Jahren noch nicht verwest sind.
Eine solche Fettwachsbildung kommt auch bei Wasserleichen vor, die aus irgendwelchen Gründen nicht zeitnah an die Wasseroberfläche aufgestiegen sind. Bei Leichen, die sich in bewegter trockener Luft befinden, kommt es hingegen zur Mumifizierung. Die Haut trocknet aus, fühlt sich lederartig an und ist von bräunlicher Farbe. Nase, Lippen, Ohren, Finger und Zehen trocknen besonders schnell und verfärben sich schwarz. Es kann durchaus vorkommen, dass Mumifizierung, Skelettierung und Fettwachsbildung gleichzeitig an einer Leiche auftreten.
Die freigelegte Leiche vor mir hatte vermutlich etwa drei Monate dort gelegen, so lange wurde die Frau bereits vermisst. Und so lange hatte sie auch niemand gesehen. Immer wieder hatten die Lokalzeitungen über ihr Verschwinden berichtet. Manchmal stand ihr Name sogar in der Überschrift: Melanie Bricksmann. Sie war sechsundvierzig Jahre alt gewesen, von Beruf Krankenschwester, geschieden, Mutter von zwei Töchtern, Zwillingen, die gerade das Teenageralter erreicht hatten.
Melanie Bricksmanns Spur hatte sich an einem Samstagabend verloren, als sie die beiden Mädchen alleinließ, um zu ihrem Freund zu fahren, der Geburtstag
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