Spuren des Todes (German Edition)
Sexualdelikte darunter. Ein genauer Blick auf den Tatort ergibt umso mehr Sinn, da man Verletzungsmuster besser und auch richtiger interpretieren kann, wenn einem die Gegebenheiten vertraut sind. Außerdem sollte man nicht vergessen, dass man durch die Verletzungsmuster und die Befunde am Tatort häufig mehr über den Täter erfährt als von ihm selbst.
Im Zusammenhang mit der Fallanalyse sollte man auch ein anderes Instrument nicht unerwähnt lassen, das bei Ermittlungen wichtige Hilfe leisten kann. Es nennt sich VICLAS . Die Buchstaben stehen für: Violent Crime Linkage Analysis System. Dahinter verbirgt sich ein Datenbanksystem, das von der kanadischen Polizei aus dem vom FBI in den achtziger Jahren entwickelten VICAP (Violent Criminal Apprehension Program) weiterentwickelt und dann vom Bundeskriminalamt für die Nutzung in Deutschland modifiziert wurde. Derzeit wird es in elf Staaten eingesetzt. Wie es die etwas holprige Bezeichnung schon ausdrückt, geht es vereinfacht gesagt darum, Daten von bestimmten Straftaten in ein Computerprogramm einzuspeisen, das diese dann analysiert und Übereinstimmungen herausfiltert, die bestenfalls Rückschlüsse auf einen möglichen Täter zulassen, falls der bereits einschlägig in Erscheinung getreten ist. Erfasst werden dazu Informationen, die den Täter und das Opfer beschreiben, ob und wie die beiden zueinander in Verbindung standen, Angaben zum Tatort, zur Tatausführung und besondere Auffälligkeiten dabei, zu Verletzungen des Opfers, zur Todesursache, zu Waffen, Fahrzeugen und anderen Gegenständen, die bei der Tat benutzt wurden.
Hätte es VICLAS zehn Jahre zuvor in Deutschland schon gegeben, Nikolai Lewtzow wäre ein heißer Kandidat dafür gewesen. Der Sechsunddreißigjährige, ein gebürtiger Bulgare, war über lange Zeit das, was man einen notorischen Wiederholungstäter nennt: Diebstahl, Körperverletzung, Raub. Später kamen Autodiebstahl, Fahren ohne Führerschein und unerlaubter Waffenbesitz hinzu. Als hätte er sein Leben als kriminellen Steigerungslauf verstanden – immer noch ein bisschen mehr, immer noch ein bisschen brutaler. Bereits als Jugendlicher war er mehrfach ins Gefängnis gewandert, schien dort aber auch nicht zur Besinnung zu kommen. Er attackierte Wärter, prügelte auf der Krankenstation auf Pfleger ein, zertrümmerte tobend wie ein Berserker die Zelleneinrichtung. Aber irgendwann war jede Haftstrafe vorbei, und dann machte er draußen weiter wie zuvor, als wären die Gesetze für jeden in diesem Land erlassen worden, nur nicht für ihn.
Nichts und niemand konnte Nikolai Lewtzow stoppen. Bis er an einem eisigen Februartag Mitte der neunziger Jahre alle Grenzen überschritt. Damals lebte er in einer Kleinstadt in der Nähe von Hannover. Zusammen mit seiner Freundin hatte er ein kleines Siedlungshaus gemietet. Die junge Frau erwartete ein Kind von ihm, sie war im siebten Monat schwanger.
Nikolai Lewtzow ging keiner geregelten Arbeit nach. Gegenüber den Nachbarn gab er sich als Geschäftsmann aus und meinte, er sei sein eigener Boss. Jeden Tag, auch am Wochenende, kurz vor Mittag hielt ein getunter schwarzer BMW mit verdunkelten Scheiben vor dem Grundstück. Der Fahrer hupte einmal kurz und wartete dann bei laufendem Motor, bis Nikolai Lewtzow aus dem Haus kam und einstieg. Er setzte sich immer auf die Rückbank, eben wie ein Chef.
Spätabends wiederholte sich das Ritual, nur in umgekehrter Reihenfolge und ohne das Hupen: Der Wagen stoppte vor dem Haus, auf der rechten Seite öffnete sich die hintere Tür, Nikolai Lewtzow stieg aus, steuerte schnurstracks die Haustür an und verschwand dahinter.
Was er und der Fahrer in den Stunden dazwischen trieben, blieb lange ein Geheimnis. Selbst seine Freundin wusste es nicht, zumindest gab sie sich später völlig ahnungslos. Obwohl sie sich doch hätte fragen müssen, woher das Geld stammte, von dem sie lebten. Und die beiden lebten nicht schlecht.
An jenem Tag im Februar blieb er länger weg als üblich, bis zum frühen Morgen. Mit dem Fahrer, der in Wirklichkeit sein Komplize war, hatte er vor einer Villa am Stadtrand von Hannover ausgeharrt, bis hinter dem letzten Fenster das Licht erloschen war. In den Wochen davor waren die zwei immer wieder dort gewesen, um die Bewohner und deren Gewohnheiten auszukundschaften. Jetzt kannten sie ihren Tagesablauf und wussten, wann sie die Hausangestellten in den Feierabend schickten. Und dass es offenbar weder eine Alarmanlage noch einen Wachhund
Weitere Kostenlose Bücher