Spuren des Todes (German Edition)
der auch nicht angerührt worden, nachdem Bernhard Schlonewski den Laden verlassen hatte.
Aber warum dann? Und warum erst Jaqueline Wentrop und jetzt er? Suchten sie tatsächlich den einen Täter, der beide auf dem Gewissen hatte, oder war die Sache mit den Schrotpatronen nur Zufall? Doch dann blieb immer noch der gleiche Modus Operandi.
Es war nicht mein Problem, Antworten auf diese Fragen zu finden. Aber ich muss zugeben, dass ich mir Gedanken darüber machte. Dafür war der Fall zu ungewöhnlich. Außerdem war ich, seit ich meine Doktorarbeit geschrieben hatte, besonders empfänglich für den kriminalistischen Teil unserer Arbeit – Stichwort: Operative Fallanalyse ( OFA ). Inzwischen hat sich dieses Verfahren, das in den USA und dort hauptsächlich vom FBI entwickelt wurde, auch in Deutschland etabliert. In allen Landeskriminalämtern und beim Bundeskriminalamt gibt es OFA -Einheiten, die nach festgelegten Richtlinien und Qualitätsstandards arbeiten. Als ich am Institut begann, befand sich dieser Prozess noch im Anfangsstadium. Einer meiner Kollegen hatte erste Fallanalysen mit Ermittlern des Hamburger Landeskriminalamts gemacht. Ihm schaute ich ein bisschen über die Schulter, und bald war ich selbst mit dabei. Ein wesentlicher Aspekt der OFA -Arbeit besteht im Teamansatz. Der wird in Filmen häufig vernachlässigt. Da löst ein Superhirn die kompliziertesten Kriminalfälle im Alleingang. Und dieses Superhirn wird den Zuschauern nicht selten als Profiler »verkauft«, dessen Genialität sich darin verwirklicht, ein Täterprofil zu erstellen und dem Gesuchten damit auf die Spur zu kommen. Dabei sind Täterprofile nur ein Bestandteil der Operativen Fallanalyse. Darauf läuft es oft hinaus, aber nicht zwangsläufig bei jedem Fall.
Grundlage ist zunächst eine umfassende Tathergangsanalyse, die es ermöglichen sollte, das Besondere eines Falls zu erkennen, denkbare Motive des Täters zu bewerten und Aussagen zum Täter selbst abzuleiten. Sinnvollerweise studiert man dafür alles, was es an Erkenntnissen zu dem Fall bis dahin gibt. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Obduktionsbefunde, die wir Rechtsmediziner liefern. Überhaupt sind Informationen über das Opfer enorm wichtig. Seine Lebensgewohnheiten, sein Umfeld, persönliche Eigenschaften – all das kann Aufschluss über den Tatablauf geben, aber auch darüber, wie gefährdet der- oder diejenige war, und vor allem, wie gefährdet andere sind. Immer in Bezug auf den Täter, der noch frei herumläuft. Im Fall von Jaqueline Wentrop und Bernhard Schlonewski hätte solches Wissen möglicherweise den zweiten Mord verhindern können. Aber das ist im Nachhinein leicht gesagt.
Einzelkämpfern unter den Ermittlungsbeamten, die sich gern vor anderen produzieren, begegnet man natürlich auch im wirklichen Leben. Die sind nur meistens gar nicht so hilfreich. Sinn und Zweck der OFA ist es ja gerade, durch die Bildung interdisziplinärer Teams das Wissen aus den jeweiligen Bereichen zu bündeln, um einen Fall so umfassend wie möglich analysieren zu können, jede einzelne Facette, die er beinhaltet. Und sowieso ist die OFA als Unterstützung gedacht, die zu neuen Ermittlungsansätzen führt. Deshalb kommen Fallanalysten in der Regel erst ins Spiel, wenn ein Fall ermittlungstechnisch weitestgehend ausgereizt ist und die Beamten, die ursprünglich mit ihm betraut waren – und das auch bleiben –, auf der Stelle treten. Man versucht also, von außen einen neuen Blick auf den Sachverhalt zu werfen, so objektiv wie irgend möglich.
Um etwaige Interessenkonflikte zu vermeiden, hatten wir im Institut die Regel aufgestellt, dass niemals der im gegenständlichen Fall federführende Obduzent, sondern ein unabhängiger, mit der Methode der Fallanalyse vertrauter Rechtsmediziner eingesetzt wird. Dem in den Fall involvierten Obduzenten hingegen kommt im Gerichtsverfahren die wichtige Rolle als medizinischer Sachverständiger zu.
Im Übrigen – falls man das nicht schon herausgehört hat – plädiere ich dafür, jeden Rechtsmediziner mit der Methodik der Fallanalyse vertraut zu machen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass rechtsmedizinische Befunde bei der Erstellung von Fallanalysen von besonderer Relevanz sind. Deshalb finde ich auch, dass wir viel öfter zum Tatort gerufen werden sollten. Besonders wenn es um Gewaltdelikte geht, die in das Raster passen, das für eine operative Fallanalyse angesetzt wird. Für uns Rechtsmediziner fallen vor allem Tötungs- und
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