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Spurlos in der Nacht

Spurlos in der Nacht

Titel: Spurlos in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unni Lindell
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kommt die Kortege bald aus der Kirche zurück. Das Wetter hätte ja besser sein können, aber das ist wirklich alles.»
    Cato Isaksen bemerkte plötzlich eine junge Journalistin in Jeans und schwarzer Jacke und einen jungen Mann, der einen Fotoapparat um den Hals hängen hatte. «Sie interviewen uns», sagte Tulla Henriksen stolz. «Und wir haben die ausleihen dürfen.» Cato Isaksen schaute hinüber zu dem Portrait von Königin Maud, das an dem rosa Rokokosofa lehnte.
    «Wo ist Alf Boris?» Cato Isaksen starrte Solveig Wettergren an.
    Die war sichtlich beleidigt und ging zurück auf den Balkon, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Tulla Henriksen musterte ihn besorgt. «Der hat sich nicht blicken lassen», sagte sie. «Ist etwas passiert? Er wollte doch kommen.»
    «Und was ist mit Helena?»
    «Die wollte nicht. Bringt es nicht über sich, hat sie gesagt. Und das können wir ja verstehen.»
    Die junge Journalistin blickte ihn fragend an. Cato Isaksen fluchte leise. Er nickte kurz, ging zur Tür und riss sie wütend auf.
    Draußen standen noch immer die Portiers. Einer wollte ihn ansprechen, doch Cato Isaksen hob abwehrend die Hand und eilte zurück durch den Gang mit dem weichen, rot gemusterten Teppich. Er nahm auf der Treppe immer zwei oder drei Stufen auf einmal, dann rannte er auf die Drehtür zu, während die Portiers und die tranige Rezeptionistin neugierig hinter ihm herstarrten.
    Draußen in der Menschenmenge krampfte sich sein Magen vor Übelkeit plötzlich zusammen. Jetzt wurde die Lage ernst. Er schaltete das Handy ein, als er sich durch das Menschenmeer zwängte. Er versuchte Roger Høibakk anzurufen, aber er wurde von allen Seiten angerempelt und gab es deshalb bald auf.

70
    Helena Njerke stolperte über eine Wurzel. Der Schmerz war wieder da. Diesmal wütete er in ihrem Schienbein. Ihr Bruder ging dicht hinter ihr. In der Hand hielt er eine Pistole.
    Plötzlich tauchte ein Bild vor ihr auf, klar und deutlich. Es war nichts, was sie geträumt hatte. Es war ein Albtraum. Es war die Wahrheit hinter der Wahrheit. Es war das Nachthemd. Das mit den kleinen Tupfen.
    Die Stimme des Bruders war wieder da, genau wie damals, in ihrer Kindheit: Ich bin deine Nachtschwester. Du darfst das nicht weitererzählen, denn du möchtest doch eine große Schwester haben — oder nicht?
    Plötzlich wusste sie das alles wieder, konnte aber sein Gesicht als Kind nicht vor sich sehen. Sie wollte keine Nachtschwester. Sie erinnerte sich an seine Stimme, wenn er sie dazu gezwungen hatte, ihr Kleid auszuziehen, damit er es übernehmen konnte. Vor allem ging es um ihre Nachthemden, wenn die Eltern schliefen. Sie wusste, wie seltsam er in den viel zu kleinen Nachthemden ausgesehen hatte. In dem hellblauen mit den gelben Blumen, dem rosa mit den Engeln und dem weißen, das sie im Sommer trug.
    Plötzlich fügte sich alles zu einem klaren Bild zusammen. Die Großmutter hatte für ihn weiße Kleidchen genäht, als er noch klein gewesen war. Sie hatte ihn so gern fein gemacht. Dann war Helena geboren worden. Alf Boris war damals fünf Jahre alt. Die Großmutter hatte Helena ihre kleine Prinzessin genannt. Das wusste sie noch. Sie hatten sie verhätschelt, die Mutter und die Großmutter. Hatten sie hübsch gemacht, hatten ihr Puppen und Schmuck geschenkt. Alf Boris hatte mit einem Mal im Hintergrund gestanden. Plötzlich ganz allein, während die Frauen sich um den runden, mit Rollen von weißen Spitzen und bunten Bändern bedeckten Tisch zusammengedrängt hatten. Meter um Meter Stoff. Weich, mit Blumenmustern. Sonne und Sterne auf warmem glänzendem Grau, eine kleine Rolle mit türkisblauen Punkten. Konfekt in einer Schachtel ohne Deckel, kleine Kaffeetassen. Sie erinnerte sich an die Namen der Stoffe, die Mutter hatte sie mit zärtlicher Stimme genannt. Seide, Satin und Organdi. Plissee und Einfassband. Wenn ein Stoffstück übrig geblieben war, hatten sie oft darum gekämpft, sie und Alf. Immer hatte sie den Sieg davongetragen. Lass es ihr doch, hatte die Mutter gesagt. Das ist nichts für einen Jungen.
    Er war immer schon ein Exhibitionist gewesen. Hatte immer im Mittelpunkt stehen wollen. Sie erinnerte sich an seinen wilden Neid. Als Kind war er aggressiv gewesen und hatte über die anderen Familienmitglieder bestimmen wollen. Aber als Erwachsener hatte er sich dann scheinbar verändert. Sie hatte damals beschlossen, die Vergangenheit zu vergessen. Sie wollte sich nicht mehr daran erinnern.
    Und die Geschichte hatte

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