Spurlos
sein Gewissen plagte, und er verstand, dass sie ihrem Partner einen letzten Gefallen tun wollte.
Der Arbeiter stand auf, zahlte und verließ das Café. Die Tür schwang zweimal zurück. Sie sah ihn über den Parkplatz schlendern, in den Pick up steigen und abfahren. Vor einer Woche war sie befördert worden: Senior Detective Tamara Thompson, sechsunddreißig, geschieden, keine Kinder, Alkoholiker-Eltern und eine Schwester, die auf die ganze Familie herabblickte. Ihre Eltern hatten schon dreimal angerufen und sie gedrängt, heute Abend unbedingt vorbei zu kommen. Ihrem Vater ging es schlecht. Ihm geht es meistens morgens schlecht, hatte sie geantwortet und hinzugefügt, dass er eine Aspirin oder besser gleich zwei nehmen sollte. Sie sei hartherzig und undankbar, hatte ihre Mutter mit hysterischer Stimme gesagt, und dass sie doch wisse, wie sehr er es mit dem Magen habe.
Tamara seufzte leise und trank ihre Cola aus.
Dass Shane ging, versetzte sie seit Monaten in schlechte Laune. Sie hasste Abschiede. Und die Vorstellung, ab nächster Woche mit Spencer zusammenzuarbeiten, verschlechterte ihre Laune noch mehr. Dabei war er jung, beflissen, zuverlässig. Allerdings weder sonderlich scharfsinnig, noch brillant. Anfangs war er eher schüchtern gewesen, und sie hatte sich gefragt, was dieser Junge der Homicide Squad für einen Nutzen bringen würde. Doch inzwischen hatte er an Sicherheit gewonnen, und die ganze Abteilung wusste: Wenn es galt, hundert Personen zu überprüfen, ob sie an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Laden ein bestimmtes Klebeband gekauft hatten, war er der richtige Mann. Wenn man über Stunden mit denselben Fragen einen Verdächtigen zermürben musste, war er der Beste. Er war geradezu zwanghaft detailversessen. Vielleicht war es einfach nur sein Pech, dass er Shanes Platz einnehmen sollte, zumindest anfangs.
Über kurz oder lang würde ein neuer Detective eingestellt werden. Schon jetzt hegte sie eine Abneigung gegen den unbekannten Neuen, So erging es wohl den meisten, die sich aus dem Schatten ihres Vorbilds lösen mussten. Dabei war sie sich die Jahre, seitdem sie mit Shane zusammenarbeitete, nie so ganz klar gewesen, ob er wirklich ihr Vorbild war. Er hatte eine Menge Eigenheiten, die sie nicht besonders mochte. Sein Alkoholkonsum war nur eine davon, obwohl der früher ja viel schlimmer gewesen sein musste. Seine Macho-Allüren konnte sie auch nicht ertragen. Anfangs waren sie deshalb öfter aneinander geraten, aber seitdem er mit Carol zusammen war, hatte er sich verändert, war verständnisvoller und weicher geworden – Tamara war sicher: Ohne Carol hätte er nicht seinen Abschied genommen. Al Marlowe und auch Tom McGregor ließen keine Gelegenheit verstreichen, ihr vorzuwerfen, nicht genügend auf Shane eingewirkt zu haben, um ihn zum Bleiben zu bewegen.
„Miss!“ Sie blickte auf. Der Wirt grinste zu ihr herüber. „Der hier kennt sich aus. Er hat sie als Letzter lebend gesehen!“ Er zeigte auf den Mann an der Theke, den sie gar nicht hatte hereinkommen sehen. Ein großer, schlanker Mann um die Vierzig, mit kurz geschorenem rötlichblondem Haar und gebräunter Haut und unzähligen Sommersprossen. Wie Scott, dachte sie und merkte, wie ihr kurz heiß wurde.
„Nein, Bob, i ch war einer von denen, der sie zuletzt gesehen hat. Der sie zuletzt gesehen hat, war der Mörder.“ Er trug ein graues Baumwollhemd, das er bis über die Ellbogen ordentlich hochgekrempelt hatte. Die Schulterklappen und Brusttaschen verliehen ihm etwas Offizielles. Er hätte Ranger sein können – oder Polizist.
Der Wirt nestelte an seiner Schürze. „Ich hab’ ihm erzählt, was Sie vorhaben.“
Zögernd kam der Mann auf sie zu.
„ Todd Hoffman.“
„Tamara Thompson.“ Sein Händedruck war trocken und überraschend schwach. Vielleicht ist er schüchtern, dachte sie. Einen solchen Händedruck hatte sie schon oft bei so genannten starken Männern erlebt, bei Farmern, die Pferde bändigten, oder Bauarbeitern, die Steine schleppten – vielleicht hatten sie ja auch das Gefühl für menschliche Berührungen verloren und fürchteten, mit ihrer Kraft eine Hand gleich zu zerquetschen? Scott hatte auch so einen Händedruck gehabt. Er war auf einer Farm aufgewachsen. Sie deutete auf den Stuhl an ihrem Tisch.
„Wollen Sie sich nicht setzen?“
Er zog den Stuhl zurück und nahm Platz. Seine blauen Augen mit den hellblonden Wimpern waren wach und misstrauisch. Er hatte eingefallene Wangen, wie ein
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