Spurlos
man die Gräber mit frischen O pfern für die Seele.“
Er stand auf, hielt es auf dem Stuhl nicht mehr aus. Er musste sich bewegen, irgendetwas tun, damit es ihm einfiele – ein entscheidendes Detail, das sie damals übersehen hatten – und auch gerade wieder übersahen. Er wurde wütend. Die Wut richtete sich gegen ihn selbst, weil er nicht fähig war, den Mörder zu fassen – und sie richtete sich gegen den Mörder, der es sich herausnahm, Menschen zu töten. Früher, hatte er hin und wieder während einer Vernehmung oder bei der Festnahme die Beherrschung verloren, hatte zugeschlagen oder war kurz davor gewesen. Mit der Zeit lernte er, die Wut zu unterdrücken. Er hatte versucht, nichts mehr zu empfinden. Täter, Opfer, Angehörige und die Tat lediglich als abstraktes Problem zu begreifen, das in einer bestimmten Art und Weise gelöst werden musste. Es gab Kollegen, die so arbeiteten – und dabei sehr erfolgreich waren. Doch ihm war es nicht gelungen. Er hatte gespürt, wie er langsam dabei leblos wurde. Um erfolgreich zu sein, brauchte er Wut, Hass, Empörung, und das Mitgefühl für die Opfer und sogar auch das für die Täter. Was machte einen Menschen zum Mörder? Diese Frage stellte er sich bei jedem neuen Fall. Er sah die massakrierte Leiche Valerie Tates vor sich: den ausgeweideten Körper, den Schnitt durch die Kehle.
„Er wird es wieder tun, oder?“ Vickys Stimme erinnerte ihn an ihre Anwesenheit. Er sah in ihre Augen, doch darin spiegelte sich Valerie Tates Leiche. Als er nichts erwiderte, sagte sie: „Wenn McNulty doch damals die Tat gestanden hat, dann …“ sie schüttelte den Kopf.
„Ja?“
Sie errötete und sprach zögernd weiter: „…dann hätte ihm doch jeder geglaubt.“
Tja, dachte er, genau das ist das Problem. Ich habe immer versucht, nicht wie alle zu denken, und deshalb hatte ich öfter Erfolg.
„Ja“, sagte er und wusste, dass er abwesend wirkte. Er ging zum Fenster.
Es war halb neun und die Sonne schon untergegangen. Von draußen drangen das Zuwerfen von Autotüren und Gelächter. Längst standen die Leute in den Pubs und tranken Bier oder Cocktails. Shane konnte vom Fenster aus auf den großen Baum mit den Luftwurzeln sehen, unter dem Aborigines auf dem Rasen beieinander saßen und Bier oder Wein aus Kanistern tranken. Später würden sie dort einfach einschlafen.
„Shane?“
Vicky war aufgestanden, hielt eine Mappe mit beiden Händen an sich gedrückt. „Ich muss noch ein paar Berichte schreiben.“
„Ja, sicher, vielen Dank.“
Sie verabschiedete sich und ging. Er sah wieder zum Fenster hinaus.
12
Alison eilte durch die Fußgängerzone bis zum Ende hinunter, an all den bereits geschlossenen Geschäften vorbei zur Knuckey-Street. Dort, gegenüber dem Polizeipräsidium an der Ecke zur Mitchell-Street hatte sie vorhin ihren Wagen geparkt. Sie wollte im Reisebüro in der Knuckey-Street die für Weihnachten geplante Reise nach Kapstadt stornieren. Sie konnte sich nicht vorstellen, mit Matthew einen Urlaub zu verbringen. Matthew zog sie immer wieder auf, weil sie darauf bestand, im Reisebüro eine Reise zu buchen und nicht im Internet. Sie sei altmodisch, meinte er, und damit hatte er sicher nicht ganz unrecht.
Sie kam am Readback Bookshop vorbei, wo sie regelmäßig gebrauchte Bücher und Bilder von Aborigines kaufte. Manchmal, in ihrer Mittagspause, sah sie sich dort um, stieg auch in den ersten Stock hinauf, wo sich nicht nur Bücherregale sondern auch ein Atelier befand, ein großer Raum, in dem Aborigine-Maler hin und wieder arbeiteten. Viele von ihnen saßen vor dem Laden auf der Straße und malten dort. Aber wenn sie wusste, dass David Gulpili dort oben war, dann musste sie einfach hinauf und zusehen. Zum ersten Mal auf ihn aufmerksam geworden war sie, als er in dem Film Long Walk Home einen mit der australischen Polizei zusammenarbeitenden Fährtenleser spielte, der drei kleine aus einem Heim ausgerissene Aborigine-Geschwister einfangen und zurückbringen sollte. Sein ernstes Gesicht, seine kohlrabenschwarzen Augen, seine ebenholzfarbene Haut hatten sie merkwürdig berührt. Noch immer konnte sie die Gefühle, die sie dabei empfunden hatte, nicht präzise benennen. Schauder und Faszination vielleicht. Er hatte sie einmal im Buchladen an der Kasse angesprochen und sie eingeladen, ihm oben im Atelier beim Malen zuzuschauen. Zuerst hatte sie ihn gar nicht erkannt. Er sah viel älter aus als im Film. Seine Augen waren gerötet, die nackte Haut seines
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