Spurlos
acht saß sie schließlich neben ihrer Mutter auf der Couch und starrte in ihren eigenen Fernseher.
„Schön, Kind, dass du mal wieder da bist!“, glücklich tätschelte ihre Mutter Tamaras Arm, ohne den Blick vom Fernsehprogramm zu nehmen. Für sie war die Welt wieder in Ordnung. Die frischen Dauerwellen lagen als straffe, blonde Röllchen auf ihrem Kopf. Die Brille mit dem schweren Rahmen ließ ihr Gesicht eulenartig wirken. Sie hatte ein wenig Rouge aufgelegt. Doch es verlieh ihrem Gesicht anstelle von Frische etwas Bemitleidenswertes. Auf ihrem rosafarbenen T-Shirt stand in glitzernden Lettern Goldcoast . Tamara konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Eltern in der letzten Zeit dort gewesen waren. Sie musste es in irgendeinem Supermarkt erstanden haben.
„Unser Kasten war besser“, brummte ihr Vater. Er saß im Sessel mit direktem Blick auf den Fernseher und schlürfte Whisky. „Du verdienst doch genug Geld. Warum kaufst du dir keinen guten?“ Er trug ein in Brauntönen kariertes Halbarmhemd und beige Shorts. Seine Gummischlappen waren auf halbem Weg zwischen seinen Füßen und dem Fernseher liegen geblieben. Der Alkohol hatte ihn ausgemergelt, seine Haut war dick und gelblich-ledern geworden, seine Nase, die schon immer sein Gesicht dominiert – und die sie nicht geerbt hatte – wirkte noch raubvogelartiger, und seine buschigen Augenbrauen machten seinen Blick wilder. Das noch immer füllige Haar bauschte sich über der Stirn zu einer altmodischen Tolle. Tamara fiel auf, dass die Wohnung ungelüftet roch und ihre Eltern Anzeichen von Verwahrlosung aufwiesen. Die Zehennägel ihrer Mutter, die aus den abgetragenen Latschen hervorsahen, gehörten geschnitten, genauso wie die Haare ihres Vaters.
„Dad, es ist mir nicht wichtig. Ich hab’ überhaupt keine Zeit zum Fernsehen.“ Warum rechtfertigte sie sich eigentlich?
„Sie hat Recht, Dad. Sie hat so viel zu tun, nicht wahr, Schätzchen?“ Ihre Mutter stand mühsam auf, schob sich zwischen Couch und Tisch zur Anrichte, wo die Whiskyflasche stand. Vom Sitzen klebten die rosafarbenen Shorts an ihrem Hintern. Die Haut ihrer dicken Oberschenkel war schlaff und welk. Tamara fragte sich, ob sie auch einmal so aussehen würde. Ihre Mutter goss sich einen vierfachen Whisky ein, kam dann mit Flasche und Glas wieder zurück. Tamara zwang sich, nichts zu sagen. Schließlich wollte sie ja auch nicht, dass sich ihre Eltern in ihr Leben einmischten.
„Sieh’ dir das an, Dad!“ Ihre Mutter deutete zum Fernseher. „Ich hab immer gesagt, ich will nicht am Meer wohnen!“
Der Beitrag berichtete über einen Zyklon, der auf die Chinesische Küste getroffen war. Palmen bogen sich, Bretter, Stühle, Müll, Bleche wirbelten durch die Luft, hohe Wellen peitschten ans Ufer, rissen den Strand und Fischerboote mit sich. Schon über dreihundert Todesopfer hatte der tropische Sturm gefordert, hieß es.
„Ist das nicht fürchterlich!“ Ihre Mutter schüttelte den Kopf und sah gebannt auf die Mattscheibe. „Wisst ihr noch, wie das bei Sally war?“
„Sally?“, brummte ihr Vater, „wir könnten verrecken, und Sally interessiert es nicht die Bohne!“
„Sei nicht so, Daddy“, gab ihre Mutter zurück und schlug die mit Pigmentflecken übersäte Hand auf die Brust. „Ich hab’ damals gedacht, jetzt tut sich die Erde auf, und wir alle verschwinden darin!“ Sie schüttelte den Kopf. „Das werd’ ich nie vergessen.“
Nein, die Hochzeit i hrer Schwester vergessen, dass würde wohl niemand, der daran teilgenommen hatte, dachte Tamara. Wochenlang hatte ihre Mutter auf Sally eingeredet, die Hochzeit zu verschieben. Ein Dreizehnter als Hochzeitstag war für sie undenkbar! Aber ihre Schwester hatte sich wie üblich nicht dreinreden lassen. Als dann plötzlich der Boden angefangen hatte zu beben, war sie kreidebleich geworden. Und ihre Mutter hatte ihr einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen, bevor sie alle ins Freie gestürzt waren. Das Beben hatte keine besonderen Schäden angerichtet, zurückgeblieben war nur ein langer Riss in der Vorderseite von Sallys und Rileys Haus. Er zog sich von der linken Türkante bis hoch unter den Giebel.
„Schätzchen, möchtest du denn gar nichts trinken? Whisky belebt.“ Ihre Mutter hielt die Flasche in der Hand.
„Nein, danke, ich muss los.“ Tamara ertrug es nicht mehr neben ihrer Mutter auf der Couch zu sitzen, wie früher, als sie noch ein Kind war. Wie so oft, wenn sie mit ihren Eltern zusammen war, schwankten ihre Gefühle
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