Spurlos
das Handy an die Wand geworfen. Sally, dachte sie, warum hab’ ich alles am Hals? Seit der Hochzeit vor vier Jahren war ihre Schwester kein einziges Mal nach Brisbane gekommen, um ihre Eltern zu besuchen. Wenn die mich sehen wollen, dann müssen sie schon zu mir nach Esperance kommen, hatte ihre Schwester klargestellt. Sie wusste, dass es ihre Eltern hassten, sich von zu Hause fortzubewegen. Eine Reise zwang sie, ihren so gut eingespielten Tagesablauf aufzugeben. Sie könnten sich nicht so einfach überall betrinken, und müssten auf ihre bequemen Sessel verzichten! Für den Umzug nach Brisbane hatten sie all die ihnen noch verbliebenen Kräfte mobilisiert. Seitdem bewegten sie sich überhaupt nicht mehr irgendwohin – außer zum Arzt oder zum Bottle - Shop. Lebensmittel besorgte ihnen Tamara einmal die Woche bei einem Großeinkauf im Supermarkt. Bisher war ihre Mutter wenigstens mitgekommen. Aber schon beim letzten Mal hatte sie bemerkt, es wäre doch viel einfacher, sie würde Tamara eine Liste mitgeben.
Tamara zog die Tür hinter sich zu. Ihre Schwester hätte das alles nicht mitgemacht. Sally versuchte das exakte Gegenteil ihres früheren Lebens zu entwerfen. Ihr Mann verdiente als IT-Spezialist sehr gut, und so konnte sie es sich leisten, sich nur um ihn und die Kinder, um Haus und Garten zu kümmern. Sie versuchte alles richtig zu machen. Es gab nur gesundes Essen, organisch angebautes Obst, Gemüse, kaum Alkohol. Riley durfte sein Bier nur im Pub trinken. Tamara erinnerte sich, wie sie selbst versucht hatte, gesünder zu leben, nur noch grünen Tee getrunken und Tofu statt Fleisch gegessen hatte – aber ihre Stimmung war immer schlechter geworden.
Seit ihrer Scheidung von Scott hatte sie sich auf keinen anderen Mann mehr eingelassen. Ein paar kurze – sehr kurze – Affären, mehr nicht. Sie hatte eine Wand um sich herum errichtet und sich dahinter ganz gut gefühlt. Sicher. Unverletzbar. Sie hatte keine Verpflichtungen – außer ihren Eltern gegenüber – und musste sich nicht rechtfertigen für ihre Eigenheiten.
Ihre Freunde konnte sie an einer Hand abzählen. Und auch bei ihnen handelte es sich um Menschen, mit denen sie meist nur telefonierte. Ihr Job erschöpfte sie und das Alleinsein brauchte sie, um ihre Seele zu regenerieren. Und jetzt? Völlig unerwartet war sie diesem Mann begegnet und zum ersten Mal nach vielen Jahren begann sie ihre Schutzwand zu stören. Todd Hoffman. Sie seufzte. Leider war dieser Mann in den Fall involviert, den sie zu untersuchen hatte. Sie war Profi genug, um zu wissen, dass dies eine äußerst ungünstige Voraussetzung für eine nüchterne, neutrale Ermittlung war.
Während sie auf den Aufzug wartete, fing ihr Handy an zu klingeln . Einen Moment lang überlegte sie, ob sie drangehen sollte. Sie wollte nicht hören, dass sie ihren Eltern womöglich noch eine tiefgekühlte Lasagne oder eine Flasche Gin mitbringen sollte. Schließlich ging sie doch dran. Die Aufzugtüren öffneten sich.
„Hallo?“ Es klickte in der Leitung. Dann hörte sie noch das Freizeichen. Sie betrat den Aufzug, bevor sich die Türen wieder schließen konnten.
11
„Menschenopfer. Die Sitte beruht auf dem Seelenglauben und gehört zunächst zu den Bestattungsgebräuchen. Dem vornehmen Toten sollten sein Privatbesitz, seine Frauen und Sklaven folgen, man gab sie ihm daher ins Grab mit. Bei den Festen, die zum Andenken an die Verstorbenen gefeiert werden, versah man die Gräber mit frischen Opfern für die Seele, und unter diesen können sich auch Menschen befinden.“ Vicky legte die Kopie auf den Papierstapel vor sich. Sie hatte gegenüber von Shane, an Costarellis Schreibtisch, Platz genommen, während dieser versuchte, wie er sich ausgedrückt hatte, sich „auf der Straße mal ein wenig umzuhören“.
„Das ist aus einem sogenannten Koloniallexikon von 1920“, fügte sie hinzu. Vicky erinnerte ihn an seine Tochter. Dasselbe dunkle, glatte Haar der Chinesinnen, die leicht gelbliche Haut, die schwarzen, mandelförmigen Augen. Dabei besaß das das Blut, das durch Pamelas Adern strömte, ja nur noch einen geringer Anteil ihres chinesischen – oder wie ihre Mutter betonte: taiwanesischen - Erbes. Noch wohnte sie bei ihrer Mutter und ihrem Mann, Frank, an der Sunshine Coast, doch wenn sie tatsächlich Jura studieren wollte, würde sie nach Brisbane ziehen, nach Melbourne oder Sydney. Er war sicher, Frank würde sie großzügig unterstützen. Nachdem Shane ihn im vergangenen Jahr kennen
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