Spurlos
willst nur noch ein kaltes Bier und im Schatten sitzen. Du willst aufs Meer sehen und hin und wieder ficken. Mehr nicht. Einfach sein. Jim Banks aber weiß, dass das so nicht funktioniert. Denn das Verbrechen macht auch kein Nickerchen. “ Er sah auf. „Und ... wie findest du das?“
Shane suchte nach einer diplomatischen Antwort.
„Hm. Ist noch ein bisschen wenig …“
„Nur Geduld. Es geht ja noch weiter.“ Costarelli räusperte sich wieder und nahm das Blatt wieder hoch. „Jim Banks steckt seine Glock in den Gürtel. Heute ist ein neuer Scheiß-Tag, denkt er. Und morgen wieder. Und trotzdem will ich lieber solche Scheiß-Tage haben als gar keine mehr, wie mein Bruder.“
Costarelli sah auf. „Sein Bruder wurde nämlich in Amerika zum Tode verurteilt.“
„Aha.“
„Und?“
„Hm. Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht viel von Literatur.“ Das war nicht gelogen , und er hoffte, Costarelli würde sich damit zufrieden geben – und aufhören zu lesen.
„Kurze Sätze, nichts Überflüssiges! Hemingway hat dafür den Nobelpreis gekriegt.“
Shane war sicher, er hatte ihn für etwas anderes als solche Sätze gekriegt ...
Costarelli s tellte die Bierflasche auf den verfleckten Tisch. „Komm’ schon. Sag’s!“
„Du willst meine Meinung ehrlich hören?“
„ He, ich kann Kritik vertragen. Komm’ schon!“
„Ehrlich, Tony, ich finde es Scheiße.“
„Scheiße? He, ich hab’ drei Tage dafür gebraucht, und du sagst einfach: Scheiße?“
„ Sorry, Tony. Such’ dir einen anderen Kritiker.“
Costarelli schüttelte den Kopf und sah wieder auf seinen Text. „Scheiße? Einfach so ... Scheiße? Mann, Shane, du hast Recht, du hast wirklich keine Ahnung.“
„ Was hältst du davon, einen Kurs bei Brett Horkay zu besuchen? Kreatives Schreiben bei Brett Horkay. Valerie Tate wollte so einen Kurs machen.“
„ Brett Horkay?“ Costarelli kratzte sich am Kopf.
„Ist wohl ein bekan nter Autor und Reisejournalist“, sagte Shane.
„Und was wollte Valerie Tate von ihm?“
Shane zuckte die Schultern. „Schreiben lernen.“
„Valerie Tate? Aber warum?“
„ Das fragst du? Warum willst du denn schreiben?“
Costarelli sah ihn an , als habe er etwas Unpassendes gesagt. Costarelli war in einer merkwürdigen Stimmung.
„Ich geh dann mal.“ Shane legte Costarelli kurz die Hand auf die Schulter und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um, doch Costarelli starrte nur müde auf den verfleckten Teppich.
Samstag, 16. Juni
1
Der junge , dunkelhäutige Mann rührte sich nicht. Er stand da, den Kopf gesenkt, das gelockte schwarze Haar wirr, die Arme schlaff. Das Porträt des lächelnden Rennfahrers Michael Schumacher auf dem schwarzen T-Shirt, das er über der Sport-Bermudas trug, ließ ihn nur noch schwächer erscheinen. Die Frau hingegen stand unverrückbar neben ihm, bereit, ihren Neffen gegen alles und jeden zu verteidigen. Ihr mächtiger, Ebenholz farbener Körper umhüllte ein ärmelloses dunkelblaues Kleid, dessen blütenweiße Knopfleiste in der Sonne leuchtete. Das graue Haar war dicht und leicht gewellt, und endete knapp über der Schultern. Sie mochte Mitte vierzig sein, vielleicht auch schon fünfzig. Die beiden verharrten regungslos. Nichts von der Nervosität, mit der die Polizisten gestikulierten und sich bewegten, hatte sich auf sie übertragen. Sie würden warten – egal, wie lange. Das ging Shane durch den Kopf, als er sich ihnen näherte - und auch noch, als er schließlich vor ihnen stand und kurz nickte. Die Frau sah ihn an, ohne die Geste zu erwidern. Der junge Mann hob leicht den Kopf, blickte ihm aber nicht in die Augen. Er hatte fischen gehen wollen. Da hatte er die Leiche entdeckt: einen aufgeschlitzten Frauenkörper, berichtete die Frau in knappen Worten.
Die Luft um acht Uhr morgens war klar und frisch. Wenn der Anlass ein anderer gewesen wäre, hätte Shane die großartige Aussicht von der Klippe über das türkisblaue Meeres genießen können. Unter ihm rollten die Wellen heran, liefen langsam und leise klirrend über dem Geröll aus. An stürmischen Tagen würden die Wellen herandonnern, die Gischt würde schäumen und spritzen und tote Fische und ausgerissene Algen auf die Steine schleudern.
Ein paar hundert Meter weiter östlich ging das Geröll in feinen Sandstrand über. Dort, von hier nicht zu sehen, auf einer grünen Wiese, auf der Zelte für das Festival aufgebaut waren, erhob sich das moderne Gebäude des Darwin Museums , in dem, so hatte man
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