Spurlos
ihm gesagt, die Geschichte des Ortes ausgestellt wurde.
„Sie sind Larakija People, nicht wahr?“, fragte Shane.
Sie nickte. Er versuchte irgendwie zu ihr vorzudringen, zu erkennen, was in ihr vorging, doch da war diese unüberwindbare Mauer, die sie aufgerichtet hatte.
„Ist das hier ein besonderer Platz für Sie?“
Diesmal nickte die Frau nicht, sondern sagte mit einer tiefen, klaren Stimme: „Ja.“
„Ein heiliger Platz?“
„Ein wichtiger Platz, kein heiliger Platz.“
„Verstehe“, sagte er. Aber was verstand er schon von heiligen Plätzen, was wusste er von ihrer Geschichte – und ihrer Leidensgeschichte?
Sicher, er hatte gelesen, dass die hier ansässigen Aborigines bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Lager zusammengetrieben wurden und billige oder gar kostenlose Arbeitskräfte für die Weißen skrupellos waren. Er wusste auch, dass man einen ihrer wichtigen, wenn nicht sogar heiligen Plätze unten beim Hafen zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatte. Somit war er für sie nicht mehr zugänglich. Wie würde er sich fühlen, wenn er einer von ihnen wäre? Würde er sich nicht auch vor den weißen Machthabern verschließen?
„Sie arbeiten hier im Museum, nicht wahr?“
„Ja.“
„Was könnte es für eine Bedeutung haben, hier eine Leiche abzulegen?“ Ricola
Jetzt bewegte sich die Frau, sie drehte ihren Kopf zum Meer. Als sie sich Shane wieder zuwandte und ihm für einen Moment in die Augen sah, sagte sie: „Sie müssen es spüren.“
„ Hmm ... “
Ihr Blick wanderte über ihn hinweg zum Meer. „In den Zehn Geboten heißt es, du darfst nicht töten.“
Es überraschte ihn, dass sie die Bibel erwähnte. Womöglich war sie in einer konfessionellen Schule erzogen worden. Sie sprach ein einwandfreies Englisch.
„Jesus ist für uns am Kreuz gestorben“, fuhr sie fort.
Er wartete auf eine weitere Erklärung, doch sie sagte nur leise etwas in ihrer Sprache zu dem jungen Mann, der kaum hörbar und ohne den Kopf zu heben etwas erwiderte.
„Shane!“ Das war Costarelli. „Sag’ ihnen sie können gehen. Wir werden uns wegen weiterer Fragen an sie wenden.“
Shane wandte sich der Frau zu, die nickte nur und ging. Ohne Shane noch einmal anzusehen, folgte ihr der junge Mann und trottete mit gesenktem Kopf an ihm vorbei.
Auf einmal blieb die Frau stehen, drehte sich zu Shane um streckte ihren Arm aus, deutete zu einer Stelle am Strand weiter östlich und sagte:
„Dariba Nunggalinya, Old Man Rock“.
Er erkannte einen in Strandnähe aus d em Wasser aufragenden Felsen.
Sie sah ihn mit ihren dunklen durchdringenden Augen an.
„Du siehst ihn von hier.“ Mit diesen Worten ging sie davon, und Shane blickte ihr und dem jungen Mann nach, wie sie barfuß durchs hohe Gras über den Hügel marschierten und hinter den Büschen auf der Anhöhe verschwanden. Dem breiten, asphaltierten und bequemen Weg dort hinauf hatten sie keinerlei Beachtung geschenkt, als existiere er gar nicht. Shane sah wieder zu dem etwa zwei Meter aus dem Wasserspiegel herausragenden Felsen, an dem sich die Wellen brachen. Sollte der Mörder wirklich den Tatort ausgewählt haben, um den Felsen zu sehen? Er erinnerte sich an die beiden auffälligen Felsen, bei denen Patty Benson ermordet wurde. Und am Fundort von Valerie Tates Leiche hatte es eine Steinplatte gegeben. Immer mehr schienen die Hinweise auf einen Mörder hinzudeuten, der sich Aborigines verbunden fühlte, mit ihrem Leben und ihrer Weltsicht vertraut war, einer, der von ihren Plätzen und deren Bedeutung wusste …
Shane ging zu der Gruppe hinüber, wo die weiß gekleideten Männer von der Gerichtsmedizin die Leiche gerade in einen schwarzen Leichensack legten. Die Frau hatte schulterlanges, blondes Haar. Valerie Tate war dunkelhaarig und sicher ein paar Jahre jünger. Und Patty Benson war zierlich und dunkelblond gewesen. Der Mörder schien keinen besonderen Typen zu bevorzugen.
„Hier!“ Costarellis raue Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen. Neben der Leiche war das bekannte Zeichen auf einem großen, eckigen Stein gesprüht.
„Sind Sie fertig?“, fragte Costarelli den Fotografen, einen kleinen, gedrungenen , südländisch aussehenden Mann. „Alles fertig“, antwortete dieser, während er auf dem Display die Fotos überprüfte.
Costarelli trat an den Rand der Klippe. Shane beobachtete, wie er hinaus aufs Meer sah, wo sich in der Ferne schemenhaft ein dunkler Schatten erhob. Es mussten die Tiwi-Islands sein. Ihm fiel
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