Spurschaden
damals genau das Richtige gemacht – sie hatte dem Teufel gewaltsam die Maske heruntergerissen. Sie hatte dessen Gesicht zu der Fratze entstellt, die dieser unter der schönen Oberfläche die ganze Zeit so geschickt hatte verbergen können. Und Gott? Gott traf damals keine Schuld. Sie konnte ihm endlich vergeben, da es nichts zu vergeben gab. Gott griff nicht bewusst in den Verlauf der Welt ein, und das war gut so; das wusste sie jetzt. Das war nun ihre feste Überzeugung. Der freie Wille war das höchste Gut. Der freie Wille war das Geschenk Gottes an die Menschen, einschließlich aller daraus folgenden Konsequenzen.
Marie zuckte zusammen und drehte ihren Kopf in Richtung Kapelleneingang. Etwas hatte sie aufgeschreckt. Doch die Tür war zu. Sie musste sich geirrt haben. Da war niemand. Niemand außer ihr.
Schwungvoll drückte Marie sich mit den Händen von der kalten Holzbank ab. Ihr Körper erhob sich aus der Knieposition in die Gerade. Weit streckte sie ihre Arme Richtung Decke, dehnte sich. Sie fühlte sich gut, und sie nahm das Göttliche in ihrem Körper wahr. Das, was jeder Mensch – nach ihrer festen Überzeugung – spüren konnte, wenn er denn ehrlich zu sich war. Und mit göttlich meinte sie genau das, was nicht den in engen Regeln definierten Vorstellungen vieler Religionen entsprach. Marie nahm erneut das eng verflochtene Band wahr, das alles und jeden miteinander verband. Das Band, das sie schon als kleines Mädchen gespürt hatte. Ursache und Wirkung – kein Mensch war allein für sich verantwortlich.
»Esther, Silke … ich werde euch finden!« Und während Marie dies aussprach, glaubte sie die Stimme ihrer Mutter zu hören, deren nur zu gut bekannten Satz: »Gott hat Großes mit dir vor!« Dann folgte noch ein zweiter Satz, ein neuer: »Das Warten hat ein Ende, mein Kind. Jetzt geht es los!«
Für einen kurzen Moment sah Marie einen Widerspruch in diesen Worten. Wenn Gott Großes mit ihr vorhatte, wäre das ja vor allem Gottes Wille. Doch dann begriff sie: Gottes Wille und der Wille des Menschen mussten sich ja nicht gegenseitig ausschließen – man konnte sich frei entscheiden. Es gab also keine Unstimmigkeiten.
Aufgeregt stieß sie im schnellen Schritt die leichte Kapellentür auf und rutschte Pater Johann direkt in die Arme.
»Marie. Genau Sie habe ich gesucht! So spät noch allein hier draußen?«
»Wir sind nie allein, lieber Pater!«, erwiderte Marie mit überschwänglicher Begeisterung und zwinkerte ihm zu. Der Pater wurde daraufhin ganz verlegen. Lange musste er der jungen Novizin in die Augen geschaut haben – zu lange.
»Was wollten Sie nochmal von mir?«
Verdutzt reagierte der Pater. »Entschuldigen Sie, ich war kurz in Gedanken.« Schnell überreichte er ihr einen größeren Briefumschlag, den er geschickt unter seinem Arm eingeklemmt hatte. »Das ist heute für Sie gekommen.«
»Dankeschön!« Marie konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Doch der Pater bemerkte das nicht mehr.
»Bitte, bitte. Ich muss allerdings gleich weiter. Bis morgen früh und Halleluja.«
»Ja! Gute Nacht und Halleluja … lieber Pater.«
Marie schaute auf den Absender des Umschlags, dann drückte sie ihn fest an ihre Brust, schaute in den dunklen Nachthimmel. Die Hofbeleuchtung des Klosters verhinderte eine ungestörte Sicht. Aber sie bildete sich ein, einen besonders hellen Stern zu sehen – sie wollte einen besonders hellen Stern sehen.
14
Hatte sie eben wirklich »lieber Pater« gesagt? Marie musste lachen. Eigentlich mochte sie den Pater nicht besonders. Der Grund war einfach: Es war die Art und Weise, wie er die Zwillinge immer angeschaut hatte; und zwar nur die Zwillinge. Damit meinte sie nicht etwa einen lüsternen Blick oder etwas Verwerfliches. Nein. Es hatte vielmehr etwas Kritisches, manchmal sogar Abstoßendes in seinen Gesichtszügen gelegen. Besonders während der Mahlzeiten war Marie das aufgefallen. Einmal hatte sie den Pater sogar darauf angesprochen gehabt, woraufhin dieser in Gedanken versunken geantwortet hatte: »Schauen Sie doch! Die beiden sind so sauber.« Und bei aller anfänglichen Verwunderung über diese Aussage war Marie in diesem Moment etwas klar geworden: Sie hatte die Zwillinge nie verschmutzt gesehen. Nie waren ihr dreckige Hände, ein noch so kleiner Fleck auf der Kleidung oder fettige Haare aufgefallen. Dinge, die bei Kindern in diesem Alter einfach dazugehörten; die sich eigentlich nicht verhindern ließen. Aber bei Esther und Silke – da hatte sie dem
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