Spurschaden
es doch keine so schlechte Idee gewesen, dass sie bei Thomas’ Krankenbesuch gleich einen Termin ausgemacht hatte, dachte sie sich. Eine Untersuchung mit diesen jede Körperschicht abbildenden Hightech-Geräten brachte ja normalerweise extrem lange Wartezeiten mit sich.
Der Tag war fast vorbei und Marie hatte ihr für heute fest vorgenommenes Gespräch mit der Oberschwester erneut verschoben, die üblichen Pflichten als Novizin mehr schlecht als recht erfüllt. Unzufrieden mit sich und der Welt kniete sie zitternd vor ihrem Gott. In der Kapelle war es kalt. Der Dunst ihres warmen Atems lag zwischen ihr und dem Gekreuzigten. Wie immer hing er da, mittig über dem Altar, zum Greifen nahe. Nur der Ausdruck in seinem Gesicht kam ihr heute anders vor. Auch Jesus schien genervt zu sein; zumindest sah es deutlich danach aus. In der Kombination mit den ausgestreckten Armen kam es ihr vor, als wollte er ihr sagen:
»Na komm, liebe Marie – was hast du denn erwartet? Die Erde ist dein Revier! Soll ICH das etwa wieder in die Hand nehmen? Willst du mich erneut leiden sehen? Ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst! Jetzt bist DU dran!«
Und mit einem Mal verstand Marie. All das Leid, aber auch die Freude, lag in dem einen Geschenk begründet. In dem größten Geschenk, das Gott dem Menschen hatte geben können, es ihm tagein tagaus einräumte.
»Der freie Wille!«, flüsterte Marie erst leise. Dann schrie sie es regelrecht aus sich heraus: »DER FREIE WILLE! Mein Gott, das ist es!«
Und während Marie voller Begeisterung ihre neue Erkenntnis feierte, dachte sie auch an Jesus, an dessen Worte am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Nein, Gott hatte ihn damals nicht verlassen; er war nur konsequent geblieben – gerade bei seinem eigenen Sohn. Hier auf der Erde war Jesus vor allem eines: Mensch. Hätte sein Vater da sein größtes Geschenk an die Menschheit – ebendiesen freien Willen – zurücknehmen sollen? Hätte er bei seinem Sohn eine Ausnahme machen, den Willen der Menschen, die ihr freier Wille zu Verrätern und Mördern machte, beeinflussen sollen? Nein! Gott hatte seinen Sohn nicht retten dürfen, um keinen Preis der Welt.
Ja, Marie verstand. Drei Wochen waren seit dem Verschwinden der Zwillinge vergangen und Antworten gab es nicht. Keine Spur oder irgendwelche Hinweise. Absolut nichts – zumindest nichts, was man ihnen hier im Kloster hatte sagen können oder wollen. Ja, Marie verstand: Jetzt war sie dran! Das von der Kirche formulierte »Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden« war missverständlich. Sie ballte ihre linke Hand zu einer Faust. »Nicht hier auf Erden! Hier auf Erden sind wir Menschen allein für alles verantwortlich! Dein Wille geschehe im Himmel, aber nicht gezwungenermaßen auch auf Erden. Du willst dem Menschen nämlich nicht deinen Willen aufzwingen!«
Gut und Böse galt es in vielen Fällen relativ zu betrachten; das hatte Marie schon früh erkannt. Aber es gab Grenzen. Grenzen, die so eindeutig waren, dass sie von jedem Menschen – fern jeder Religion und Glauben – erkannt wurden. Warum? Weil sie im genetischen Code, im göttlichen Code, fest verankert waren. Wer diese Grenzen mit seinem freien Willen bewusst überschritt, war abseits aller Natur, fern allem Göttlichen. Diese Unmenschen durften von ihren Mitmenschen keine Gnade erhoffen. Einzig Gott konnte ihnen vergeben.
Der Spruch aus der Bibel »Wer dich auf die linke Wange schlägt, dem halte auch deine rechte hin!« erschien Marie nun in einem völlig neuen Sinn.
»Wie konnte ich das all die Jahre nicht begreifen?«, flüsterte sie erstaunt, fast entsetzt. Das war ein Test. Man sollte dem, der einem Leid zugetragen hatte, mit dem Hinstrecken der anderen Wange die Gelegenheit geben, seine Tat zu erkennen. Dem Täter würde in dieser Situation die Grenze verdeutlicht, die absolut war, die jeder Mensch eindeutig erkennen musste. Die Aussage hieß nämlich nicht: »Wer dich auf die linke Wange schlägt, von dem lass dir auch auf die rechte schlagen.« Hier lag ein gewaltiger Unterschied. Man sollte seinem Gegenüber eine letzte Chance geben, sich eindeutig zu entscheiden. Und falls dieser erneut zuschlagen wollte, dann besaß man das Recht, sich mit aller Stärke zu wehren, den Angreifer in seine Schranken zu weisen. Tat man das nicht, so senkte man sein Haupt vor dem Teufel und ergab sich, war vollends verloren. Gewaltloser Widerstand? Ja, aber nur innerhalb bestimmter Grenzen!
Sie hatte also
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