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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Halo
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deutliche Rotfärbung rund um Maries linkes Ohr wahr. Die eigentliche Blutung schien allerdings gestoppt.
    »Ich muss …« Marie schaute sich irritiert um. Dann verschwand sie leicht taumelnd hinter der einzigen Tür, die offenstand – im Umkleideraum. Eine Minute später klopfte ein aufgeregter Professor Arndt an ebendiese Tür und glaubte ein deutliches »Ich komme!« zu hören. Fünf Minuten später klopfte die technische Assistentin an wieder diese Tür, drückte sie nach unendlich lang erscheinenden Sekunden der Stille vorsichtig auf: Der Umkleideraum war leer. Nur Maries tiefschwarze Winterjacke hing sorgfältig auf einem Kleiderbügel.
    Die folgende Stunde war geprägt von wildem Durcheinander. Der Name Marie Kraft und eine kurze Beschreibung der Person wurden an das interne Personal weitergeleitet, die normalen Ausgänge besonders überwacht. Eine kleinere junge Frau in Nonnentracht sollte doch auffindbar sein, so dachte man sich. Und tatsächlich; eine Nonne wurde von einem Pfleger schnell gefunden – allerdings eine Mitte 70. Diese erzählte etwas von einem schwarzen Schatten mit übergroßer Faust, der ihr völlig grundlos die Nase blutig geschlagen hätte.
    Während Professor Arndts Sprechstundenhilfe die folgenden Patiententermine verschob, eilten der Pater und der Professor auf getrennten Wegen durch den näheren Gebäudekomplex. Der eine rief sie bei ihrem Vornamen, nach Schwester Marie, der andere bei ihrem Nachnamen, nach Frau Kraft; immer wieder – eine Antwort blieb aus. Pünktlich zur vollen Stunde trafen sie sich in der hauseigenen Cafeteria. Ihre Suche war erfolglos geblieben.

21
    Marie rannte. Weiß – unter ihr, rechts und links von ihr, über ihr. Ein dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt und ließ den schmalen Pfad immer wieder für Sekundenbruchteile hinter einer hellen Wand verschwinden. Doch Marie hielt die Spur, hatte Witterung aufgenommen. Wie ein Tier trieb es sie in eine ganz bestimmte Richtung, geleitet von einem Instinkt, dem ihr Verstand nichts entgegenzusetzen hatte. Es zog sie hinunter ins Tal, weg vom Krankenhaus. Das Bild einer Nonne mit blutender Nase verdrängte nur kurz die anderen Bilder. Hatte sie der älteren Schwester vorhin wirklich ins Gesicht geschlagen? Falls ja, dann tat es ihr leid. Es musste sich um eine Reflexbewegung gehandelt haben, schließlich hatte man ihr den Weg versperrt. Zeit. Das alles war auch eine Frage der Zeit. Und Angst. Diese Angst, dass sie jemand an ihrer Mission hindern könnte.
    »Babybrei«, dachte Marie und glaubte, dort, wo sich eigentlich ihr Gehirn befinden sollte, eine dickflüssige Masse zu spüren, die von innen gegen ihren Schädel schwappte – bei jedem Versinken der Füße im Schnee.
    Auch wenn ihr das alles weitgehend irreal vorkam, so wollte sie dennoch an der jetzigen Situation festhalten. Allein der Gedanke, dass sie auf neue Informationen, die Zwillinge betreffend, stoßen könnte, trieb sie voran. Vielleicht hatte die Maschine einen Schaden gehabt und ihr Gehirn vorhin wirklich zu Brei verarbeitet. Vielleicht hatte aber auch eine Überdosis an radioaktiver Strahlung genau das Gegenteil bewirkt – Superkräfte. Marie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie versuchte, die Kälte und die inzwischen völlig durchnässte Kleidung zu verdrängen. »Wenn ich renne, dann schwitze ich. Und wenn ich schwitze, dann erfriere ich nicht!«, machte sie sich Mut. Und das half; jedenfalls bildete sie sich das ein.
    Während sie Schritt für Schritt dem schmalen Pfad weiter folgte und die Geschwindigkeit, mit der sie das tat, schon lange nichts mehr mit Rennen gemein hatte, erinnerte sie eine größere Schneeansammlung – direkt vor ihr – an Onkel White. Dieser Onkel prägte eine der wenigen frühen Kindheitserinnerungen von Marie, und sein Name war das erste englische Wort, das sie kennengelernt hatte. Ein Onkel, den sie mit ihren eigenen Händen mühsam erschaffen hatte; ein Onkel, der weiß war, so wie der Schnee, aus dem er bestand: ihr erster Schneemann. Unendlich stolz war sie damals gewesen, besonders auf die Idee mit den Flaschen. Eher zufällig fand sie diese beim Müll rausbringen. Fein säuberlich lagen da diese winzigen leeren Glasflaschen in einer halb offenen Holzkiste. Zunächst wollte sie einige davon ihrer Puppe Mona mitbringen. Doch dann stieg ihr ein aufdringlich süßer Geruch in die Nase, der leicht abstoßend wirkte. Nein. Sie hatte eine bessere Idee. Wenig später brachte die Abendsonne den Schneemann zum

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