Spurschaden
das da an ihrem Ohr?« Pater Johann deutete erneut auf das Kamerabild, das Maries Gesicht vollständig abbildete.
»Du, ich muss mich hier konzentrieren! Wenn man auf dem Rücken liegt, fließen die Tränen vom Auge in Richtung Ohr – je nach Kopfhaltung … das weiß man doch!«
»Rote Tränen?«
»Was?« Jetzt rückte auch Professor Arndt näher an den kleinen Monitor. »Das ist Blut … Verdammt! Da stimmt was nicht!« Hilflos schaute er zunächst den Pater an, zögerte. Dann schrie er regelrecht: »Jutta! Hol sie da raus! Schnell!«
Jutta reagierte sofort – stürmte aus dem Kontrollraum.
Professor Arndt drückte hektisch an einigen Knöpfen. »In was hast du mich da nur reingeritten!«
Pater Johann legte die Hand auf die Schulter seines Freundes. »Du … deine Assistentin … Jutta … die weiß nichts von den Modifikationen an der Maschine, oder?«
»Spinnst du? Natürlich nicht! Aber wie sieht das bei dir aus? Hast DU jemandem was davon erzählt?« Einige größere Schweißperlen glänzten auf der Stirn des Professors.
»Nein!« Pater Johann schluckte hörbar. Dann flüsterte er: »Wir können die Welt verändern … DU kannst die Welt verändern!«
»Ich weiß«, seufzte der Professor. Und er nahm einen leichten Schmerz wahr, als sich die Finger von dem, der vor vielen Jahrzehnten immer das Pausenbrot mit ihm geteilt hatte, stärker in seinen Schulterbereich drückten.
20
Sie rannte. Nicht um ihr Leben – das hatte sie schon lange in die Hände ihres Schöpfers gelegt. Nein. Sie rannte, um die zu retten, die ihr so unendlich viel bedeuteten – schien die Lage auch noch so hoffnungslos. Und weil sie es ihrem Bruder geschworen hatte, unmittelbar nach dem Tod seines Weibes. Er würde keine neue Mutter für seine Kinder suchen, sich keiner neuen Liebe hingeben, das hatte sie damals mit absoluter Klarheit gespürt; und sie hatte Recht behalten. Wer hätte sich denn um seine Töchter kümmern sollen? Ein Vater, der mit dem Schwert durch die Lande zog? Nein. Die Kinder waren in ihrer Obhut bestens aufgehoben, und im Kloster waren die beiden sicher gewesen. Bis heute.
Sie rannte. Und sie schaute nicht zurück. Niemand würde ihr folgen, nicht in absehbarer Zeit – ein Verlassen des Klosters war streng verboten. Bis ihre Mitschwester die Oberschwester informiert hätte, wäre sie längst im Dorf. Hinzu kam, dass ihre Faust Schwester Agnes schwer getroffen, deren Nase regelrecht zermalmt hatte; aber was war ihr anderes übrig geblieben. Dass ausgerechnet Agnes ihr zu dieser frühen Stunde begegnet war – ein ärgerlicher Zufall, der aber auch zu einer traurigen Erkenntnis geführt hatte: An der Ausgangspforte des Klosters hörte die freundschaftliche Schwesternliebe auf. Genau dort hatte sich nämlich Agnes ihr in den Weg gestellt. Auch wenn sie es gut gemeint hatte – sie hätte es verstehen müssen. Die Zwillinge waren verschwunden, und sie waren außerhalb der schützenden Klostermauern in Lebensgefahr. Irgendwer würde in ihrem identischen Antlitz, in ihrer Vollkommenheit, das Werk des Teufels sehen. Und dann wäre es um sie geschehen.
Ihr Herz raste und ihre Lungen schrien nach Luft – mehr Luft. Hinzu kam ein dumpfes Summen, das sie Schwester Agnes zu verdanken hatte. Deren zuerst erhobene flache Hand musste sie vorhin mit voller Wucht am Ohr getroffen haben; es schmerzte, fühlte sich heiß und seltsam klebrig an.
Die Situation an sich – die offenbar schon länger geplante Flucht der Kinder –, sie hätte es nicht verhindern können. Die zwei Mädchen liebten sie, das wusste sie. Doch deren Drang nach neuem Wissen, nach Freiheit, hatte sie schon länger nicht mehr stillen können. Aber heute. Ausgerechnet heute. Warum hatten die Zwillinge nur diesen Zeitpunkt gewählt? Warum taten sie ihr so entsetzlich weh? Heute, an ihrem Geburtstag. Das waren die Fragen, die ihr immer wieder durch den Kopf schossen, während sie weiter in die Richtung rannte, in der sie ihre Liebsten vermutete: dort unten im Nebel. Dort unten im Tal – im Dorf der Ungläubigen.
»Warum habt ihr mir das angetan?«, stöhnte sie und blickte in ein blendend helles Licht, das die Dunkelheit verdrängte.
»Es tut mir leid! Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.« Jutta beugte sich herunter, umfasste zärtlich die zitternde Hand, half Marie aufzustehen.
»Die Kinder … wo sind die Kinder?«
»Was meinen Sie … was meinst du?« Jutta schaute in das mit Tränen übersäte Gesicht und nahm erschrocken die
Weitere Kostenlose Bücher