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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Halo
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16-Jährige aus fast jeder noch so ausweglosen Situation herauswinden können. »Du hast mehr Glück als Verstand«, sagte seine Mutter regelmäßig und sprach es unbewusst auf eine Art und Weise, dass ihr Sohn das auch glaubte.
    »Eine Nonne anfahren … das bringt ganz sicher Unglück«, dachte Alexander und saß schwitzend dort, wo man für gewöhnlich zu warten hatte, wollte man Informationen zu einem Patienten einholen. Mit dem zuständigen Arzt hatte er schon kurz sprechen dürfen – sie würde es überleben.
    Alexander spürte den Schweiß an seinem Rücken. Besonders im unteren Bereich schien sich eine beträchtliche Menge anzusammeln; dort, am Ansatz zwischen den beiden Pobacken. Bald würde ein Polizist eintreffen. Zumindest hatte man ihm das so gesagt. Eine Befragung würde folgen.
    Mit der Polizei hatte Alexander schon öfters zu tun gehabt. Sein Glück war nur, dass er damals die Ausnahmegenehmigung zum Fahren eines Motorschlittens bereits bekommen hatte – vor seinem ersten strafrechtlich bedenklichen Verhalten. Mit 15 Jahren durfte er seiner Mutter bei der Ausübung ihres Jobs behilflich sein; er übernahm einen Teil der Logistik. Wie seine Mutter es fertiggebracht hatte, dass er als Jugendlicher diese Art von Gefahrengut transportieren durfte, fragte er sich immer wieder. Doch irgendwie hatte sie den oder die Verantwortlichen überzeugt. Irgendwie hatte sie mit unwiderlegbarer Logik vermitteln können, dass ihr Sohn am besten geeignet wäre, ihr das Sprengmaterial zu den nur schwer zugänglichen Stellen zu liefern. Eine Gefahr bestand schließlich erst nach dem Anbringen der jeweiligen Zünder, und zu diesem Zeitpunkt war er schon lange wieder in sicherer Entfernung. In weiter Ferne hörte er dann immer die dumpfen Explosionen – diese Sprengungen, hoch oben am Berg. Sie waren die einzige Möglichkeit, um gefährliche Schneeansammlungen als Lawine gezielt auszulösen; in die einzig sinnvolle Richtung: der dem Skigebiet abgelegenen Seite. Dorthin, wo die gewaltigen Schneemassen keine Gefahr darstellten. Alexander kannte sich in den Bergen sehr gut aus, und das war wohl der Hauptgrund, dass er auch heute wieder seiner Mutter hatte helfen dürfen. Eine Aufgabe, die ihm Spaß machte und auf die er stolz war.
    Jetzt saß er da, im Schweiße seines Angesichts, schwitzte und zitterte erbärmlich. Was würde seine Mutter sagen? Wie würde sein Vater reagieren? Vermutlich war dieser bereits auf dem Weg zu ihm.
    Alexander atmete bewusst langsam tief ein und aus. In Gedanken sah er seinen Vater im typischen Arztkittel den Raum betreten. Ihn, der mit seiner Privatklinik und seiner überragenden fachlichen Kompetenz das ursprüngliche Krankenhaus vor der Pleite gerettet hatte. Ihn, der in aller Welt hoch geschätzt und geachtet wurde, aufgrund des von ihm entwickelten medizinischen Körperscanners. Ja, Alexanders Vater war eine Autorität in diesem Bereich. Seine jetzigen Kollegen hielten große Stücke von ihm als Arzt – seine ehemaligen Kollegen bewunderten ihn als überragenden Quanten-Physiker. Gerade weil er mindestens so streng zu sich selbst wie zu anderen war, konnte man mit ihm offen über Fehler reden. Und Fehler gab es – besonders unter Ärzten – öfters als allgemein gedacht. Auch trug seine kleine, untersetzte Gestalt dazu bei, dass er, trotz offensichtlich geistiger Überlegenheit, sympathisch unvollkommen in Erscheinung trat. Als Ehemann und Vater machte er jedoch keine gute Figur. Viel zu selten gelang es ihm, den Beruf, seine Berufung, in den eigenen vier Wänden loszulassen. Nein, Professor Arndt war einfach kein Familienmensch. Dies traf allerdings auch auf seine Frau und seinen Sohn zu. Sie alle waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass ein länger anhaltendes Beisammensein vermisst wurde.
    Alexander spürte eine Hand auf seiner Schulter, schreckte aus seinen Gedanken. Jemand hatte sich neben ihn gesetzt.
    »Mein Sohn, ich bin stolz auf dich!«
    »Papa?!« Irritiert schaute er in das Gesicht seines Vaters. »Stolz? Wie meinst du das?«
    »Hat man dir nicht erzählt …?«
    »Papa!«, unterbrach Alexander. »Ich … ich habe eine Nonne angefahren!«
    »Ja, das hast du wirklich!« Sein Vater grinste. »Und du hast ihr damit das Leben gerettet! Diese junge Frau wäre da draußen erfroren … ohne dich!«
    Alexander hielt den Atem an, dachte nach, verstand. Und mit einem Mal nahm er die befreiende Frische wahr, spürte, wie all der Schweiß seine Haut zu kühlen begann.

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