Spurschaden
»Du meinst, ohne den Unfall wäre sie gestorben?«
»Ja! Ein Wunder. Das war ein Wunder, dass du sie überfahren, äh, ich meine, angefahren hast. Niemand hätte sie an dieser Stelle gesucht. Niemand hätte sie dort gefunden! Nicht rechtzeitig!«
Alexander schaute seinem Vater in die Augen, grinste zurück. Doch nur kurz. »Und das Blut? Habe ich sie nicht schwer verletzt?« Mit hektischen Bewegungen zog er seine Ski-Jacke so zurecht, dass die blutgefärbten Ärmel sichtbar wurden. Sich selbst anklagend streckte er diese dem Vater entgegen.
»Ja … eine der Kufen von deinem Schneemobil muss sie an der Hand verletzt haben.« Alexanders Vater hielt inne. »Aber das spielt keine Rolle! Sie lebt … mein Gott, Junge! Sie wird leben!« Und er beobachtete ganz genau jede noch so kleine Regung seines Sohnes. In Gedanken schien dieser sich die Situation von vorhin bildlich vorzustellen. Und so war es. Alexander erinnerte sich, nickte mehrmals mit dem Kopf: »Stimmt! Du hast recht! Ich hatte sie ja anfangs gar nicht gesehen; wie auch, bei diesem Schneetreiben. Erst der Schrei ließ mich anhalten.«
»Das meine ich! Du hast dir absolut nichts vorzuwerfen! Ich bin so froh! Das alles ergibt einen Sinn! Ach ja, sie ist übrigens eine Novizin, also noch keine echte Nonne, glaub ich.«
Alexander spürte noch immer die Hand des Vaters auf seiner Schulter ruhen, und bei all der Erleichterung, die die neue Erkenntnis mit sich brachte, war es ein ungewohntes Bild, das sein Vater da ablieferte. Diese überschwängliche Freude erschien irgendwie skurril, fast irreal. Sicher, solch eine Extremsituation hatte es bei ihnen noch nie gegeben, somit hatte er keinen Vergleich. Doch seine innere Stimme schien ihn regelrecht anzuschreien, dass hier etwas nicht stimmte; dass es noch andere Gründe geben musste, warum sein Vater sich so gehen ließ. Es schien, als hätte er heute seinen ganz persönlichen Hauptgewinn gezogen. Und was hatte er eben mit »Das alles ergibt einen Sinn« gemeint?
»Professor Arndt. Bitte melden Sie sich in OP 3!« Die Durchsage überraschte Vater und Sohn gleichermaßen – beide wollten gerade etwas sagen.
»Du … wir reden später. Ich muss los!« Der Vater löste die Hand von der Schulter seines Sohnes, strich fast zärtlich über dessen langes blondes Haar und verschwand hastig in Richtung der OPs. Zurück blieb Alexander. Hin- und hergerissen von den unterschiedlichsten Gefühlen blieb er sitzen, wartete. Er fühlte sich nicht länger als Täter. Wegen der Polizei musste er sich also keine Sorgen mehr machen. Doch mit der Gesamtsituation an sich war er zutiefst unzufrieden; all die Fragen. Was hatte die Nonne da draußen ohne schützende Winterausrüstung gesucht? War sie auf der Flucht gewesen? Falls ja, vor wem? Und vor allem, von wo? Diese junge Nonne regte Alexanders Fantasie an, und er wollte es sich zur Aufgabe machen, alles über sie zu erfahren. Hinzu kam, dass er sich für sie verantwortlich fühlte. An eine Welt, die von Zufällen gelenkt wurde, glaubte er nicht, ebenso wenig wie an ein Leben ohne Sinn.
Versunken in diese Gedanken tauchten plötzlich Erinnerungsfetzen auf, Einzelheiten, den Unfall betreffend. Klar und deutlich lag da diese Stimme in seinen Ohren, doch er konnte sie zeitlich nicht einordnen. Sicher war, dass die Nonne zu ihm gesprochen hatte, vermutlich als er ihren kleinen, aber stattlichen Körper auf den Motorschlitten gehoben, diesen anschließend irgendwie mit dem Arm eng umklammert hatte. Erst jetzt verstand Alexander, warum seine rechte Hand noch immer stärker zitterte: Erschöpfung. Es war die Hand, die den schlaffen Körper der jungen Frau während der Fahrt so krampfhaft festgehalten hatte.
»Alexander, Gott hat Großes mit dir vor!« Da war sie wieder, diese angenehme, fast zärtlich klingende Stimme. Und mit einem Mal breitete sich Panik in ihm aus. Sein Atem wurde schneller, das Herz raste. Zeitgleich mit einem hochfrequenten Summen, das diese Stimme in seinen Ohren überlagerte, erkannte er das, was da nicht stimmen konnte: sein Name. Die Nonne konnte ihn unmöglich mit seinem Namen angesprochen haben. Und doch, je länger er darüber nachdachte, erinnerte er sich deutlicher an diese Situation. Er hatte sich vorhin auch kurz erschrocken, musste es dann aber verdrängt haben – Ablenkung hatte er ja genug gehabt. Das alles war schließlich nicht einfach gewesen, obwohl er ein ausgezeichneter Fahrer mit viel Erfahrung war.
»Sie kennt meinen Namen!«, ging es ihm
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