Spurschaden
Strahlen, besonders sein gläsernes Gebiss. Marie hatte Onkel White ein Gesicht gegeben. Augen, Nase, Mund. Sogar eine Krawatte. Und dann war da noch die Krone auf seinem kugelrunden Kopf. Voller Begeisterung schaute Marie auf das, was sie mit ihren Händen und den Glasflaschen erschaffen hatte. Ihre Mutter würde ihr endlich mal wieder über die Haare streichen, ihr sagen, wie stolz sie auf ihre Tochter war. Und so schlich Marie leise an dem auf der Couch vor sich hindösenden Stiefvater vorbei, huschte geschickt die Treppen hinauf und legte sich zufrieden auf ihr Bett, wartete – die Mutter würde bald nach Hause kommen.
Drei kurz aufeinanderfolgende Donnerschläge schallten von den Bergen zu Marie herab, verdrängten laut die Erinnerungen. Onkel White wurde zu dem, was er in Wirklichkeit war: eine nicht enden wollende Schneemasse. Schnee – überall Schnee. Umhüllt von eisiger Kälte, versuchte sich Maries Körper mit Schüttelkrämpfen zu wehren. Die Lage war kritisch.
»Ich muss gestürzt sein«, dachte sie und versuchte sich aufzuraffen. Nur langsam gelang es ihr, sich mit den fast tauben Händen so abzustützen, dass sie Halt fand, dass ihr Körper sich aufrichten ließ. Dann stand sie da, zitternd und völlig orientierungslos. Wo war sie? Und vor allem: Warum war sie hier?
Starke Winde machten die Kälte noch deutlicher spürbar. Gesicht und Ohren schmerzten, brannten, so als hätte man immer und immer wieder auf sie eingeschlagen. Die Haare und ihre Kleidung hatten die Schneeflocken regelrecht aufgesaugt, waren nass und schwer, zwangen Marie beinahe wieder zu Boden. Hilflos taumelte sie, hinterließ wirre Bahnen im tiefen Schnee.
»Weiter! Ich muss weiter!«, befahl sie sich und wollte an alles denken, nur nicht an Stillstand. Im dichten Schneetreiben erkannte sie einen schmalen Weg, Bäume, Hügel, doch wohin sollte sie gehen? Geradeaus, vorwärts, – Marie drehte sich um – oder lieber zurück? Für einen kurzen Moment suchte sie nach ihren Spuren, wollte mit deren Hilfe die bisher eingeschlagene Richtung bestimmen. Doch schnell gab sie auf. Jeder Schritt war einer zu viel, zehrte an ihren letzten Kraftreserven. Hinzu kam, dass ihre Stiefelabdrücke überall zu sein schienen; vor ihr und hinter ihr. Nein, so kam sie nicht weiter. Eine Entscheidung musste getroffen werden. Und genau in diesem Augenblick fiel ihr Blick in die Richtung, in der etwas hell aufblitzte. Marie kniff die Augen zusammen, wartete. Ja, da war es wieder. »Vielleicht eine Taschenlampe, ein Suchtrupp«, dachte sie und wusste es ganz genau: Jetzt. Genau jetzt wäre der passende Moment, das zu tun, zu dem sie bisher nur in ihren Träumen fähig gewesen war. Das, was sie im Wachzustand noch nie getan hatte: Um Hilfe rufen – so laut wie möglich. Und während sie noch darüber nachdachte, wie laut das wohl sein würde, hörte sie bereits ihre durch kurze Atempausen getrennten Schreie.
Wenig später sank Marie zu Boden, rang nach Luft. Ein kurzer Blick nach oben, ein Stoßgebet zu ihrem Gott, dann wieder nach vorne. Das Licht kam näher, schnell. Mit einem letzten Kraftakt streckte sie ihren Arm aus und verdeckte grob mit der rechten Hand den blendend hellen Lichtstrahl. Es folgte ein nichtmenschliches aufheulendes Brummen und wenig später erneut ihr Schrei. Doch dieses Mal war es ein Schmerz, der Maries Lippen auseinanderriss, ihre eigentlich durch die Kälte inzwischen nahezu gefühllose rechte Hand brennend heiß durchfuhr. Ein zweiter Schrei folgte nicht, dazu war sie zu schwach. Während sie das Bewusstsein verlor, sah sie schemenhaft den zerhackten Onkel White vor Augen und die Schaufel, die mittig in dem steckte, was einmal sein Kopf gewesen war. Sie sah die Glassplitter und die großen Stiefelabdrücke. Ja, jetzt, wo sie das Bewusstsein verlor, verstand sie das, was sie bisher nie hatte begreifen können. Kein anderer als ihr Stiefvater war es offenbar damals gewesen, der auf ihren Schneemann eingeschlagen hatte und danach auf ihre Mutter. Im Alkoholrausch musste er sich von Onkel Whites gläsernem breiten Grinsen verhöhnt und ausgelacht gefühlt haben. Wer anderes als eine erwachsene Frau hatte in den Augen des Stiefvaters das kostbare hochprozentige alkoholische Gut ausleeren und damit diese Fratze erschaffen können. Maries Augen füllten sich mit Tränen, schlossen sich. Dunkelheit.
22
Eine schwarze Katze bringt Unglück – auf die schwarze Katze von Alexander traf das eher nicht zu. Bisher hatte sich der
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