Sputnik Sweetheart
halten. Allerdings lauerte die ganze Zeit, wie eine lautlose Schlange im Gras, ein Gefühl der Entfremdung in mir. Es ließ erst nach, als ich das Studium und alle offiziellen Verpflichtungen abbrach.
Meine vorläufige These lautet wie folgt:
Durch das Schreiben schaffe ich mir einen zusätzlichen Raum, in dem ich mich im Alltag vergewissere, wer ich bin.
Richtig?
Stimmt genau!
Bisher habe ich unglaublich viel geschrieben. Normalerweise jeden Tag. Als würde ich ganz allein in aller Eile eine riesige Wiese abmähen, auf der das Gras unablässig und mit ungeheurer Geschwindigkeit nachwächst. Heute mähe ich hier, morgen dort… und wenn ich eine Runde gedreht habe, steht das Gras wieder genauso hoch wie zu Anfang.
Seit ich Miu begegnet bin, habe ich kaum geschrieben. Warum wohl? Die Theorie vom neuen fiktionalen Rahmen und seiner noch nicht an mein Leben angepassten Übersetzung, die K aufgestellt hat, finde ich überzeugend. Wahrscheinlich ist etwas Wahres daran. Dennoch habe ich das Gefühl, dass da noch mehr ist. Ich muss einfacher denken. Einfacher. Einfacher.
Seit ich Miu kenne, habe ich aufgehört zu denken – natürlich spreche ich hier von meiner persönlichen Definition von Denken. Miu und ich waren die ganze Zeit unzertrennlich wie zwei ineinander liegende Löffel. In ihrem Kielwasser gelangte ich an Orte, von denen ich nichts wusste und die mir nichts sagten. Ich ließ mich einfach treiben.
Um Miu zu folgen, musste ich eine Menge Ballast abwerfen. Sogar der einfache Akt des Denkens war zu viel für mich. Das allein sagt ja schon alles.
Auch wenn das Gras noch so hoch wucherte, kümmerte ich mich einfach nicht mehr darum. Stattdessen legte ich mich hinein und sah zu, wie am Himmel die weißen Wolken zogen. Ich überließ mein Schicksal den dahintreibenden Wolken, gab mich dem Duft des Grases und dem Raunen des Windes hin. Der Unterschied zwischen Bekanntem und Unbekanntem wurde mir dabei völlig gleichgültig.
Nein, so stimmt es nicht. Dieser Unterschied war mir schon immer egal. Ich muss präziser berichten. Präziser. Präziser.
Es war sogar meine wichtigste Maxime als Schriftstellerin, so über die Dinge zu schreiben (oder zu denken), als wären sie mir unbekannt. Der Gedanke ›das weiß ich schon, damit brauche ich meine Zeit nicht zu vergeuden‹, hätte alles sofort beendet, und ich wäre nirgendwohin gelangt. Ein konkretes Beispiel: Wenn ich mir einreden würde, ich kenne einen Menschen so in- und auswendig, dass es sich erübrigt, über ihn zu schreiben, liefe ich Gefahr, mich selbst zu betrügen. Das betrifft auch dich. Besonders hinter dem, was wir genau zu kennen glauben, lauert noch vieles, wovon wir nichts wissen.
Erkenntnis ist nicht mehr als die Summe unserer Unkenntnis.
Das habe ich (unter uns gesagt) zu meiner simplen Weltsicht erkoren.
Wissen und Nicht-Wissen sind untrennbar miteinander verknüpft wie siamesische Zwillinge, befinden sich aber im Zustand des Chaos. Chaos. Chaos.
Wer kennt schon den Unterschied zwischen dem Meer und dem, was sich darin spiegelt? Und wer kann Einsamkeit von sacht fallendem Regen unterscheiden?
Ohne Zaudern habe ich es aufgegeben, zwischen Wissen und Nicht-Wissen zu unterscheiden. Das ist mein Ausgangspunkt. Vielleicht ein schlechter Ausgangspunkt, aber von irgendetwas muss der Mensch ja ausgehen, oder? Das heißt, ich kann Inhalt und Form, Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung, mich und die Glieder meiner Hand unmöglich als voneinander getrennt wahrnehmen. Wie Krümel auf dem Küchenboden – Salz, Pfeffer, Mehl, Stärke – ist alles miteinander vermischt.
Ich und die Gelenke meiner Hand – ich merke gerade, wie ich vor dem Computer sitze und meine Gelenke knacken lasse. Eine schlechte Angewohnheit, die ich wieder angenommen habe, seitdem ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Zuerst lasse ich die Gelenke der fünf Finger meiner rechten Hand knacken, dann die aller fünf Finger meiner linken. Ich will ja nicht angeben, aber ich kann sie so laut knacken lassen, dass es sich anhört, als bräche sich jemand den Hals. In der Grundschule habe ich damit alle Jungen in meiner Klasse besiegt. Als ich mit der Uni anfing, hat K mir klargemacht, dass Fingerknacken keine Fähigkeit ist, die Grund zu besonderem Stolz gibt. Von einem gewissen Alter an sollte ein Mädchen nicht dauernd ihre Gelenke knacken lassen – zumindest nicht vor Leuten. Sonst geht es einem wie Lotte Lenya in Liebesgrüße aus Moskau. Warum hat mir das nur
Weitere Kostenlose Bücher