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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sprachen: Sie hatte bereits eine Monatsmiete im Voraus bezahlt und sich eine Dauerkarte für das Musikfestival gekauft. Ihr Apartment in Paris hatte sie für die Sommerferien vermietet. Sie konnte jetzt nicht plötzlich zurückfahren. Außerdem war ja in Wirklichkeit gar nichts Konkretes geschehen. Niemand hatte ihr etwas getan. Nichts Böses war ihr widerfahren. Vielleicht bin ich einfach ein bisschen überempfindlich, versuchte sie sich zu beruhigen.
    Sie war etwa seit zwei Wochen in der Stadt, als sie wie so oft in ihrem kleinen Stammlokal zu Abend aß und spontan beschloss, nach dem Essen endlich einmal wieder auf einem langen Spaziergang die Abendluft zu genießen. In Gedanken versunken schlenderte sie durch die Straßen, bis sie sich unversehens vor dem Vergnügungspark mit dem Riesenrad wiederfand. Lebhafte Musik, rufende Menschen, Kinderstimmen. Die meisten Besucher waren Familien und junge einheimische Paare. Miu musste daran denken, wie ihr Vater mit ihr als Kind manchmal in einen Vergnügungspark gegangen war. Sie erinnerte sich noch deutlich an den Geruch seiner Tweedjacke, denn bei jeder Karussellfahrt hatte sie sich an den Ärmel ihres Vaters geklammert. Diesen Geruch verband die kleine Miu mit der fernen Welt der Erwachsenen und war zugleich ein Symbol für Sicherheit. Auf einmal verspürte Miu Sehnsucht nach ihrem Vater.
     
    Zum Spaß kaufte sie sich eine Eintrittskarte und ging in den Park, in dem es eine Menge kleiner Buden gab, darunter einen Schießstand, einen Schlangenbeschwörer und eine Wahrsagerin mit einer Kristallkugel. »Mademoiselle, kommen Sie«, versuchte die dicke Frau Miu an ihren Stand zu locken. »Es ist wichtig für Sie. Ihr Schicksal wird eine dramatische Wendung nehmen.« Miu lächelte und ging vorbei. Sie kaufte sich ein Eis und setzte sich auf eine Bank, um die Passanten zu beobachten. Sie fühlte sich weit weg von der lärmenden Menge. Ein etwa dreißigjähriger, blonder, zierlicher Mann mit einem Schnurrbart, dem eine Uniform nicht schlecht gestanden hätte, sprach sie auf Deutsch an. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und deutete auf ihre Uhr. »Ich warte auf jemanden«, sagte sie auf Französisch. Dabei kam ihr die eigene Stimme höher und heiserer vor als sonst. Der Mann sagte nichts mehr, lächelte verlegen, winkte ihr kurz zu und verschwand.
     
    Miu stand auf und begann, ziellos umherzuschlendern. Jemand warf Pfeile, und ein Luftballon platzte. Ein Tanzbär drehte sich stampfend im Kreis, während ein Leierkasten »An der schönen blauen Donau« spielte. Miu schaute nach oben und sah zu, wie das Riesenrad sich langsam durch die Luft drehte. Sie bekam Lust mitzufahren und ihr Haus einmal von oben zu sehen statt immer nur von unten. Glücklicherweise hatte sie sogar noch das Fernglas in der Handtasche, das sie zum Musikfestival mitgenommen hatte, um von ihrem Platz auf dem Rasen die Bühne besser beobachten zu können. Es war sehr leicht und einigermaßen stark, und sie würde damit bis in ihre Wohnung schauen können.
     
    An der Bude vor dem Riesenrad kaufte sie eine Fahrkarte. »Wir machen bald Schluss«, brummte der alte Mann mit gesenktem Kopf wie zu sich selbst. »Wir machen dicht. Das ist die letzte Runde, einmal rum und dann Schluss«, sagte er und schüttelte den Kopf. Er hatte weiße Bartstoppeln, und sein Schnurrbart war vom vielen Rauchen gelblich verfärbt. Er hustete. Seine Wangen waren so rot, als hätte er eine Ewigkeit im schneidenden Nordwind gestanden.
    »Macht nichts. Eine Runde genügt mir«, sagte Miu und stellte sich mit ihrer Karte auf die Plattform. Sie schien der einzige Fahrgast zu sein. Soweit sie sehen konnte, fuhr sonst niemand mit. Müßig schaukelten die leeren Gondeln, während das Rad träge seine Runden drehte, als wäre es am Ende aller Zeiten angekommen.
    Sie bestieg eine rote Gondel, und als sie sich auf die Bank gesetzt hatte, kam der Alte und verschloss die Tür von außen. Wahrscheinlich aus Sicherheitsgründen. Schwerfällig und ächzend wie ein urzeitliches Tier setzte sich das Rad in Bewegung. Das Gewirr der Stände und Buden unter ihr wurde immer kleiner, und vor ihr flammte das Lichtermeer der Stadt auf. Zur Linken lag der See, auf dessen Oberfläche sich funkelnd die Beleuchtung der Vergnügungsdampfer spiegelte. Dörfer sprenkelten die fernen Berghänge mit Knäueln von Lichtern. Beim Anblick von so viel Schönheit wurde Miu eng ums Herz.
    Nun kam auch das Stadtviertel auf dem Hügel, in dem sie wohnte, in Sicht. Miu

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