Sputnik Sweetheart
aus Mius Gesicht alle Farbe gewichen.
Es hatte mich viel Überredungskunst gekostet, sie dazu zu bringen, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ich musste mit allen Tricks arbeiten: Ermutigung, Drohung, Schmeichelei, Lob und Verführung. Dann endlich redeten wir eines Nachts beim Rotwein, bis der Morgen anbrach. Wir hielten uns an den Händen und spürten ihren Erinnerungen nach, setzten sie Stück für Stück zusammen und analysierten die Folgen. An manches konnte sich Miu partout nicht mehr erinnern. Sooft sie versuchte, diese Stellen offen zu legen, verstummte sie verwirrt und trank von ihrem Wein. Wenn wir auf dieses gefährliche, schwankende Terrain gerieten, gaben wir die Suche auf und tasteten uns vorsichtig wieder auf sicheren Boden zurück.
Es war, nachdem ich gemerkt hatte, dass Miu sich die Haare färbte, dass ich sie überredete, mir ihre Geschichte zu erzählen. Kaum jemand von ihren Bekannten weiß davon, aber mir war es aufgefallen. Wenn man lange zusammen auf Reisen ist, merkt man solche Dinge irgendwann einmal. Außerdem hatte Miu wahrscheinlich gar nicht versucht, es vor mir zu verbergen, sonst wäre sie sicher viel vorsichtiger gewesen. Vielleicht dachte sie auch, ich würde sowieso darauf kommen. Oder sie wollte, dass ich es merke. (Das ist natürlich reine Spekulation.)
Also sprach ich sie eines Tages direkt darauf an. Es ist meine Art, ohne Umschweife nach etwas zu fragen, das mich beschäftigt. Wieviel von deinem Haar ist weiß? Seit wann färbst du es? Seit vierzehn Jahren. Vor vierzehn Jahren ist mein Haar ganz weiß geworden. Warst du krank? Nein, erwiderte Miu. Es ist etwas geschehen, und über Nacht wurde mein Haar weiß.
Bitte, erzähl es mir, bettelte ich. Ich möchte alles über dich wissen. Ich würde nie etwas vor dir verbergen. Aber Miu schüttelte stumm den Kopf. Bis dahin hatte sie diese Geschichte noch keinem Menschen erzählt. Nicht einmal ihrem Mann. Vierzehn Jahre lang hatte sie ihr Geheimnis bewahrt.
Doch schließlich sprachen wir eine ganze Nacht lang über das, was damals geschehen war. Jede Geschichte müsse einmal erzählt werden, habe ich zu Miu gesagt. Sonst würde dieses Geheimnis für immer auf ihrer Seele lasten.
Miu sah mich an, als betrachte sie eine Landschaft in weiter Ferne. Etwas trieb aus der Tiefe ihres Blicks an die Oberfläche, um dann langsam wieder zu versinken. »Es gibt nichts, was ich von meiner Seite klären müsste. Eine Erklärung kann nur von der anderen Seite kommen, nicht von mir«, sagte Miu.
Offen gesagt hatte ich keine Ahnung, wovon sie sprach. »Wenn ich dir die Geschichte jetzt erzähle, werden wir beide durch sie für immer verbunden sein. Ist dir das bewusst? Ich weiß nicht, ob ich damit das Richtige tue«, sagte Miu. »Wenn ich den Deckel dieser Büchse öffne, wirst du vielleicht auch mit in diese Geschichte hineingezogen. Willst du das? Möchtest du wirklich etwas wissen, das zu vergessen mich so viel gekostet hat?«
Ja, sagte ich. Egal was es ist, ich will es mit dir teilen. Ich will nicht, dass zwischen uns etwas verborgen bleibt.
Miu nahm einen Schluck Wein und schloss die Augen. In dem dichten, schweren Schweigen, das nun herrschte, schien die Zeit nur noch zäh dahinzufließen. Miu war unentschlossen.
Doch schließlich begann sie zu erzählen. Allmählich. Stück für Stück. Einiges entwickelte sofort ein Eigenleben, während anderes starr und leblos blieb. So entstanden zwangsläufig Lücken, die jedoch oft für sich sprachen. Meine Aufgabe als Erzählerin besteht nun darin, alles sorgfältig zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Die Geschichte von Miu und dem Riesenrad
Jenen Sommer verbrachte Miu allein in einer Schweizer Kleinstadt an der französischen Grenze. Sie war damals fünfundzwanzig, lebte in Paris und studierte dort Klavier. In die kleine Stadt war sie im Auftrag ihres Vaters gekommen, um dort eine einfache geschäftliche Angelegenheit für ihn zu erledigen, bei der es nur darum ging, einmal mit dem Vertragspartner essen zu gehen und dann den Vertrag zu unterschreiben. Das Städtchen gefiel Miu auf den ersten Blick. Es war klein und schmuck, lag an einem See und hatte eine mittelalterliche Burg. Miu beschloss, eine Weile zu bleiben, zumal in einem Dorf in der Nähe ein Musikfestival stattfand, zu dem sie mit einem Leihwagen täglich fahren konnte.
Sie hatte Glück und fand eine möblierte Wohnung in einem hübschen sauberen Häuschen auf einem Hügel am Rande der Stadt. Die Aussicht
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