Sputnik Sweetheart
zückte ihr Fernglas und suchte ihr Haus. Es war gar nicht so einfach zu entdecken. Unaufhaltsam näherte sich ihre Gondel dem Zenit, und sie musste sich beeilen, sodass sie mit ihrem Fernglas hektische Schwenks vollzog – hin und her, hoch und runter. Aber es gab zu viele ähnliche Gebäude in der Stadt. Inzwischen hatte ihre Gondel den höchsten Punkt erreicht, und es ging bereits wieder abwärts. Da! Da war es! Endlich hatte sie es entdeckt. Das Haus hatte mehr Fenster, als sie angenommen hatte. Viele standen offen, um die sommerliche Brise in die Wohnungen zu lassen. Sie schweifte mit dem Fernglas von Fenster zu Fenster, bis sie ihre Wohnung – die zweite von rechts im zweiten Stock – gefunden hatte. Doch nun näherte sich ihre Kabine schon dem Boden, und die Mauern anderer Gebäude nahmen ihr die Sicht. Schade, es hatte nicht viel gefehlt, und sie hätte einen Blick in ihre Wohnung werfen können.
Ihre Gondel näherte sich der Plattform. Sehr langsam. Als sie versuchte, die Tür zu öffnen, um auszusteigen, ging sie nicht auf. Miu fiel wieder ein, dass sie ja von außen verriegelt war. Sie hielt nach dem Fahrkartenverkäufer Ausschau, aber er war nirgends zu sehen. Das Licht in seiner Bude war auch schon aus. Sie wollte rufen, aber niemand war in der Nähe. Das Riesenrad setzte sich wieder in Bewegung. Ausgerechnet, dachte sie und seufzte. Ärgerlich. Bestimmt war der Alte auf die Toilette gegangen und hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, sodass sie wohl oder übel noch eine Runde drehen musste.
Was soll’s, dachte sie, immerhin durfte sie dank seiner Schussligkeit noch einmal herumfahren. Das gab ihr die Chance, doch noch einen Blick von oben in ihre Wohnung zu werfen. Das Fernglas mit beiden Händen umklammernd reckte sie den Kopf aus dem Fenster. Da sie das Haus schon bei der ersten Runde lokalisiert hatte, gelang es ihr jetzt mühelos, ihre Wohnung zu entdecken. Das Fenster stand offen, und das Licht war an. (Sie hasste es, in eine dunkle Wohnung zurückzukehren. Außerdem hatte sie ursprünglich vorgehabt, gleich nach dem Abendessen nach Hause zu gehen.)
Die eigene Wohnung durch ein Fernglas zu betrachten, gab ihr das eigenartige Gefühl, sich selbst nachzuspionieren. Aber ich bin ja nicht da, dachte sie. Wie zu erwarten. Auf dem Tisch stand das Telefon. Es würde Spaß machen, jetzt dort anzurufen. Auf dem Tisch lag ein Brief. Den würde ich auch gern von hier aus lesen, dachte Miu. Natürlich war es unmöglich, so weit zu sehen.
Ihre Gondel hatte wieder den höchsten Punkt erreicht, und die Abfahrt begann. Doch nachdem sie sich ein kurzes Stück abwärts bewegt hatte, kam das Riesenrad mit einem lauten Krachen ruckartig zum Stillstand. Miu wurde an die Wand geschleudert, sodass sie mit der Schulter anstieß und beinahe das Fernglas fallen gelassen hätte. Das Motorgeräusch des Riesenrads verebbte, und eine unwirkliche Stille breitete sich aus. Die fröhlichen Stimmen und die lebhafte Musik waren verstummt, die Lichter der meisten Stände erloschen. Miu lauschte. Doch außer dem sanften Rauschen des Windes war nichts zu hören. Völlige Stille. Keine Rufe, keine Kinderstimmen. Zuerst verstand sie nicht, was geschehen war. Doch dann begriff sie. Man hatte sie vergessen.
Sie beugte sich aus dem Fenster, um nach unten zu schauen. Erst jetzt wurde ihr klar, wie hoch über der Erde sie schwebte. Um Hilfe zu rufen, war zwecklos, denn wer sollte ihr Stimmchen von so weit oben hören?
Wohin war der alte Mann gegangen? Bestimmt war er betrunken, dachte Miu erbittert. Bei der Gesichtsfarbe, der Fahne und dieser rauen Stimme – kein Zweifel. Der besoffene Alte hat mich in das Riesenrad einsteigen lassen, mich einfach vergessen und die Maschine abgeschaltet. Jetzt hockt er wahrscheinlich in einer Kneipe und gießt bis zur endgültigen Besinnungslosigkeit Bier oder Schnaps in sich hinein. Miu biss sich auf die Lippen. Vielleicht sitze ich hier bis morgen Nachmittag fest. Oder bis morgen Abend? Wann der Park wohl aufmacht?
In der Schweiz sind die Nächte auch im Sommer kühl. Miu trug nur eine dünne Bluse und einen kurzen Baumwollrock. Der Wind frischte auf. Wieder beugte sie sich aus dem Fenster und schaute hinunter. Es brannten jetzt kaum noch Lampen. Anscheinend hatten die Schausteller eingepackt und waren nach Hause gegangen. Aber es musste doch einen Wachmann oder so etwas geben! Mehrmals hintereinander holte sie tief Luft, schrie, so laut sie konnte, um Hilfe und lauschte. Keine
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