Sputnik Sweetheart
bei ihren Eltern anrufen sollte. Deren Nummer hatte ich zwar auch nicht, aber es wäre ein Leichtes gewesen, aus dem Branchenverzeichnis von Yokohama die Zahnarztpraxis ihres Vaters herauszusuchen. Im Endeffekt konnte ich mich auch dazu nicht entschließen. Einmal blätterte ich in der Stadtbücherei alle Zeitungen vom August durch und entdeckte in den Kolumnen »Aus aller Welt« auch ein paar kleinere Artikel über eine zweiundzwanzig Jahre alte japanische Touristin, die auf einer griechischen Insel verschwunden war. Die dortigen Behörden fahndeten nach ihr. Bisher gab es keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Das war alles. Es stand nichts darin, was ich nicht schon wusste. Anscheinend verschwanden verhältnismäßig viele Touristen im Ausland. Sumire war nur eine von ihnen.
Danach gab ich alle Versuche auf, etwas Neues über Sumire herauszufinden. Welche Gründe es für ihr Verschwinden geben mochte und was die Ermittlungen auch erbringen würden, einer Sache war ich mir sicher: Falls Sumire zurückkäme, würde sie sich bei mir melden. Das war das Einzige, was für mich zählte.
Der September verging, der Herbst verflog, und es wurde Winter. Der siebte November war Sumires dreiundzwanzigster Geburtstag, und am neunten Dezember wurde ich fünfundzwanzig. Das neue Jahr brach an, das Schuljahr ging zu Ende. Rübe wurde, ohne weitere Probleme zu bereiten, in die fünfte Klasse versetzt, die nicht mehr meine war. Über den Ladendiebstahl sprach ich nie mit ihm. Ich brauchte Rübe nur anzusehen, um zu wissen, dass es nicht notwendig war.
Da ich nicht mehr sein Klassenlehrer war, begegnete ich auch meiner »Freundin« nicht mehr. Ich glaube, dafür waren wir beide dankbar. Die ganze Geschichte gehörte nun der Vergangenheit an. Dennoch erinnerte ich mich bisweilen wehmütig an die Wärme ihrer Haut, und mehrere Male war ich nahe daran, sie anzurufen. Doch die Erinnerung an die Empfindungen, die der Lagerschlüssel des Supermarkts und Rübes kleine Pfote in meiner Hand an jenem Sommernachmittag in mir ausgelöst hatten, hielt mich davon ab.
Hin und wieder musste ich ganz plötzlich an Rübe denken. Sooft ich ihm zufällig in der Schule begegnete, fiel mir auf, was für ein sonderbares Kind er doch war. Ich konnte nicht erraten, welche Gedanken sich hinter seinem schmalen, unbeteiligten Gesicht verbargen, aber irgendetwas Ungewöhnliches ging in ihm vor. Dieses Kind hatte, wenn es darauf ankam, die Kraft, einen Plan in die Tat umzusetzen. Der Junge strahlte eine gewisse Tiefe aus. Im Nachhinein fand ich es gut, dass ich ihm an jenem Nachmittag im Café so ehrlich mein Herz ausgeschüttet hatte. Gut für ihn und auch für mich. Wahrscheinlich besonders für mich. Es klingt vielleicht ein bisschen seltsam, aber er hat mich damals verstanden und akzeptiert. Und mir sogar verziehen. Bis zu einem gewissen Grad.
Wie verbringen Kinder wie Rübe ihre Tage, bis sie erwachsen sind (ein Zeitraum, der ihnen wie eine Ewigkeit vorkommen muss)? Wahrscheinlich ist es ziemlich hart für sie – zumindest überwiegt das Harte. Aus eigener Erfahrung konnte ich die Kümmernisse vorhersagen, die ihm bevorstanden. Würde er sich verlieben? Würde er wiedergeliebt werden? Natürlich war es unsinnig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Nach der Grundschule würde er in einer Welt leben, in der ich keine Rolle mehr spielte, und ich hatte eigene Probleme, mit denen ich fertig werden musste.
In einem Musikgeschäft kaufte ich mir eine CD mit Mozart-Liedern, gesungen von Elisabeth Schwarzkopf, die ich mir viele Male anhörte. Ich liebte die herrliche Ruhe dieser Stücke. Wenn ich die Augen schloss, versetzte mich die Musik unweigerlich zurück in jene Nacht auf der griechischen Insel.
Außer einigen lebhaften Erinnerungen (zu denen auch meine heftige Begierde am Tag ihres Umzugs zählte) hatte Sumire mir nur ein paar lange Briefe und die Diskette hinterlassen. Inzwischen habe ich die Briefe und ihre Texte so oft gelesen, dass ich sie auswendig kann. Jedes Mal wenn ich sie lese, habe ich das Gefühl, Sumire wäre bei mir und unsere Seelen begegneten sich. Das erwärmt mein Herz mehr als alles andere. Es ist, als ob man nachts im Zug eine weite Ebene durchquert und durch das Fenster in der Ferne das kleine Licht eines Bauernhauses sieht. Im nächsten Augenblick hat die Dunkelheit es wieder verschluckt, doch wenn man die Augen schließt, verweilt der Lichtpunkt noch für einen Augenblick ganz schwach auf der Netzhaut.
Ich erwache
Weitere Kostenlose Bücher