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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Buch.«
    »Steht in jedem Buch«, wiederholte er ausdruckslos. Dann nahm er ein Handtuch und wischte sich den Schweiß vom Stiernacken.
    »Eine leichte emotionale Störung – was soll das überhaupt heißen? Als ich noch Polizist war, hatte ich jeden Tag von morgens bis abends mit Typen zu tun, die nicht nur leicht gestört waren. Auf der Welt gibt es eine Menge solcher Leute. Mehr als genug. Wenn ich mir die Zeit zu nehmen wollte, auf die ›Hilfeschreie‹ all dieser Leute zu hören, bräuchte ich mindestens ein Dutzend Gehirne.«
    Er schnaubte und stellte den Karton mit den Heftern wieder unter den Schreibtisch.
    »Also gut, ich gebe Ihnen Recht. Kinderherzen sind rein. Körperliche Züchtigung ist falsch. Alle Menschen sind gleich. Man kann einen Menschen nicht nach seinen Noten beurteilen. Also nehmen Sie sich die Zeit, reden Sie mit ihm und finden Sie eine Lösung. Ist mir egal. Aber wird die Welt dadurch allmählich besser? Bestimmt nicht. Eher schlechter. Wie können alle Menschen gleich sein? Unfassbar. Schauen Sie mal, in unserem kleinen Japan drängeln sich einhundertzwanzig Millionen Menschen. Es wäre die Hölle, wenn die alle gleich wären.
    Das sind alles leicht dahingeplapperte, schöne Worte. Sie machen die Augen zu, stellen sich blind und überlassen die Probleme anderen. Sie regen sich nicht auf, singen ein Abschiedslied, händigen den Kindern ihr Abschlusszeugnis aus, und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute. Ladendiebstahl ist ein Hilfeschrei aus Kinderherzen. Aber von dem, was später passiert, haben Sie keine Ahnung. So ist es für Sie am bequemsten. Und wer muss es ausbaden? Leute wie ich. Denken Sie, wir tun das, weil es uns Spaß macht? Für Sie sind 6800 Yen eine Lappalie, aber betrachten Sie es einmal von Standpunkt des Bestohlenen aus. Hier sind hundert Leute beschäftigt. Für die zählt schon eine Differenz von ein, zwei Yen. Wenn bei der Abrechnung hundert Yen in der Kasse fehlen, müssen sie mit Überstunden ausgeglichen werden. Haben Sie eine Ahnung, was die Kassiererinnen in diesem Supermarkt in der Stunde verdienen? Warum bringen Sie Ihren Schülern nicht mal so was bei?«
    Ich schwieg. Sie schwieg auch. Und der Junge sowieso. Erschöpft von seiner Rede fiel der Wachmann in das allgemeine Schweigen ein. Im anderen Zimmer klingelte einmal kurz das Telefon, dann hob jemand ab.
    »Was schlagen Sie also vor?« fragte er.
    »Wir fesseln ihn und hängen ihn an der Decke auf, bis er ehrlich bereut und um Verzeihung bittet«, sagte ich.
    »Das wäre nicht schlecht. Aber Ihnen ist ja klar, dass wir dann beide gefeuert werden.«
    »Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mir die Zeit zu nehmen und ernsthaft mit ihm zu reden. Etwas Besseres habe ich nicht anzubieten.«
    Ohne anzuklopfen kam jemand aus dem anderen Zimmer herein. »Herr Nakamura, könnte ich den Schlüssel zum Lager haben?« Herr Nakamura kramte in der Schreibtischschublade, konnte aber den Schlüssel nicht finden. »Er ist nicht da«, sagte er. »Komisch, ich bewahre ihn immer hier auf.« Es sei wichtig, sagte die andere Person, sie brauche den Schlüssel sofort. Dem Tonfall der beiden war zu entnehmen, dass es ein ziemlich wichtiger Schlüssel war, der von vornherein nicht an einem so unsicheren Ort hätte aufbewahrt werden dürfen. Sie durchsuchten alle Schubladen, aber der Schlüssel kam nicht zum Vorschein.
    Wir drei sahen wortlos zu. Meine Freundin warf mir hin und wieder einen flehenden Blick zu, während Rübe unverändert ausdruckslos zu Boden starrte. In meinem Kopf kreisten alle möglichen Gedanken. Es war entsetzlich heiß.
    Der Mann, der den Schlüssel brauchte, gab auf und verzog sich brummend.
    »Es reicht jetzt«, sagte Wachmann Nakamura in dienstlichem Ton zu mir. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich drücke noch einmal ein Auge zu. Das Übrige überlasse ich Ihnen und der Mutter des Jungen. Sollte so etwas jedoch noch einmal vorkommen, werde ich ungemütlich. Das sage ich Ihnen. Haben Sie verstanden? Ich will keine Ungelegenheiten, aber ich muss meine Arbeit machen.«
    Meine Freundin und ich nickten. Rübe schien nichts gehört zu haben. Als ich aufstand, taten die beiden es mir zögernd nach.
    »Zum Abschluss noch eine Sache«, sagte der Wachmann im Sitzen an mich gewandt. »Es mag ungehörig sein, aber ich muss Sie das fragen. Seit Sie den Raum betreten haben junger Mann, habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt. Sie sind jung, groß, sympathisch,

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