Sputnik Sweetheart
mitten in der Nacht, stehe auf (schlafen kann ich sowieso nicht mehr), lege mich aufs Sofa und hänge in Gedanken meinen Erlebnissen auf der Insel nach, während ich Elisabeth Schwarzkopf lausche. Langsam blättere ich in den Seiten meiner Erinnerung und vollziehe jede einzelne Szene nach. Der schöne einsame Strand, das Café am Hafen. Den verschwitzten Rücken des Kellners. Ich denke an Mius bezauberndes Profil und den Blick von der Veranda auf das glitzernde Mittelmeer. An den bedauernswerten gepfählten Helden auf dem Marktplatz. Und an die griechische Musik, die mich in jener Nacht auf den Hügel lockte. Ich erinnere mich lebhaft an das magische Mondlicht und den seltsamen Rhythmus der Musik. An das Gefühl der Verlorenheit, das ich empfand, als die Musik mich weckte. An den Schmerz jener unwirklichen Nacht. Als würde mein Körper langsam durchbohrt.
Ich schließe die Augen und schlage sie wieder auf. Ich atme langsam ein und aus. Ich versuche nachzudenken, aber dann denke ich an nichts. In Wirklichkeit gibt es zwischen Denken und Nicht-Denken auch gar keinen Unterschied. Ich kann zwischen dem einen und dem anderen nicht mehr deutlich unterscheiden, zwischen dem, was existiert, und dem, was nicht existiert. Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel wird hell, Wolken ziehen, die Vögel zwitschern, ein neuer Tag bricht an und vereint auf sich das Bewusstsein der Menschen, die diesen Planeten bewohnen.
Etwa ein halbes Jahr nach Sumires Verschwinden sah ich Miu einmal in Tokyo. Es war an einem warmen Sonntag Mitte März. Tief hängende Wolken bedeckten den Himmel, es sah nach Regen aus. Alle hatten Regenschirme dabei. Ich war unterwegs zu Verwandten, die in der Innenstadt wohnten, und das Taxi, in dem ich saß, hielt gerade an der Kreuzung Hiroo in der Nähe des Supermarkts Meidiya, als ich einen dunkelblauen Jaguar entdeckte, der sich auf der linken Spur durch den Stau schlängelte. Der Wagen fiel mir auf, weil die Fahrerin auffällig weißes Haar hatte. Schon von weitem bildete das weiße Haar einen lebhaften Kontrast zu dem makellosen Blau ihres Wagens. Da ich Miu nur mit schwarzem Haar gesehen hatte, dauerte es einen Moment, bis ich sie erkannte. Sie war genauso schön wie damals, auf wunderbare Weise vornehm. Ihr atemberaubendes weißes Haar ließ die Menschen Distanz wahren und verlieh ihr eine fast mythische, kühne Ausstrahlung.
Aber diese Frau war nicht die Miu, die mir beim Abschied am Hafen der Insel mit der Hand über den Rücken gestrichen hatte. Obwohl nur ein halbes Jahr vergangen war, schien sie sich in einen anderen Menschen verwandelt zu haben. Natürlich trug auch ihr Haar zu diesem Eindruck bei, aber das war es nicht allein.
Eine leere Hülle – das war mein erster Gedanke, als ich sie sah. Etwas unendlich Bedeutsames (dasjenige, was wie ein Wirbelsturm über Sumire hinweggefegt war und das mein Herz auf der Fähre ins Wanken gebracht hatte) war endgültig verloren. Kein Sinn existierte mehr, nur Leere war geblieben. Nicht die Wärme des Lebens, nur die Stille der Erinnerung. Beim Anblick ihres weißen Haars dachte ich unwillkürlich an die Farbe bleicher Menschenknochen. Einen Moment lang stockte mir der Atem.
Bisweilen überholte Mius Jaguar mein Taxi, dann wieder fiel sie zurück, ohne dass sie mich bemerkte. Ich wagte nicht, sie zu rufen – zum einen wusste ich nicht, was ich hätte sagen sollen, und zum anderen waren die Fenster des Jaguar fest geschlossen. Mit geradem Rücken, beide Hände am Lenkrad, konzentrierte sich Miu auf den Verkehr. Vielleicht war sie auch in Gedanken versunken. Oder sie lauschte der Kunst der Fuge aus ihrem Autoradio. Solange ich sie im Auge behielt, veränderte sich ihre eisige, verhärtete Miene nie, sie blinzelte kaum einmal. Schließlich wurde die Ampel wieder grün. Der blaue Jaguar fuhr weiter in Richtung Aoyama und ließ mein Taxi hinter sich, das sich anschickte, nach rechts abzubiegen.
So ist das Leben. Wie schwer und tödlich unser Verlust auch sein mag, wie wichtig auch immer das, dessen wir beraubt wurden: Wir leben einfach weiter. Selbst wenn nur noch die äußerste Schicht unserer Haut die Gleiche geblieben ist und wir zu völlig anderen Menschen geworden sind, strecken wir die Hände nach der uns zugemessenen Zeit aus, holen sie ein und bringen sie schließlich hinter uns. Sooft ich darüber nachdenke, wie wir unermüdlich und meist ohne besonderes Geschick unsere alltäglichen Verrichtungen wiederholen, überkommt mich das Gefühl
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