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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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ich, dass das Quatsch war. Meine Eltern gehörten nicht zu den Menschen, die sich hilfloser Waisenkinder annehmen. Jedenfalls kam es mir unwahrscheinlich vor, dass ich mit meiner Familie blutsverwandt sein sollte, weil sie mir so fremd war.
    Ich stellte mir eine andere Stadt vor, weit weg. Dort stand das Haus, in dem meine richtige Familie lebte. Es war nur ein kleines, bescheidenes Haus, aber es strahlte Herzenswärme aus. Die Menschen darin standen einander nah, und sie konnten offen miteinander über ihre Gefühle sprechen. Abends, wenn die Mutter in der Küche das Essen zubereitete, klapperten die Töpfe, und ein köstlicher Duft nach warmem Essen zog durchs Haus. Das war mein wirkliches Zuhause. Immer wieder malte ich es mir aus und sehnte mich danach.
    In der Realität hatten wir einen Hund, und eigentlich war er mir von der ganzen Familie der Liebste. Er war zwar eine Promenadenmischung, aber sehr gescheit. Wenn man ihm einmal etwas beigebracht hatte, behielt er es für immer. Ich ging jeden Tag mit ihm im Park spazieren, setzte mich auf eine Bank und unterhielt mich mit ihm. Wir verstanden uns prächtig. Das war für mich die glücklichste Zeit in meiner Kindheit. Aber als ich in der fünften Klasse war, wurde der Hund nicht weit von unserem Haus von einem Laster überfahren. Danach hatten wir nie wieder einen, weil Hunde Krach und Schmutz machen. Nach seinem Tod saß ich meist allein in meinem Zimmer und las. Die Welt in meinen Büchern erschien mir als so viel lebendiger als die, die mich umgab. Die Bücher führten mich durch unbekannte Landschaften, sie waren meine besten Freunde. In der Schule hatte ich auch ein paar nette Freunde, aber keinem von ihnen konnte ich mich anvertrauen. Wir unterhielten uns nur über alltägliche Dinge und spielten zusammen Fußball. Wenn mich etwas bedrückte, sprach ich mit niemandem darüber. Ich dachte über das Problem nach, zog meine eigenen Schlüsse und versuchte, es ohne fremde Hilfe zu lösen. Trotzdem fühlte ich mich nicht einsam. Für mich war das normal. Letzten Endes muss jeder Mensch allein zurechtkommen.
    Dann lernte ich an der Uni diese Freundin kennen, und meine Einstellung änderte sich ein bisschen. Ich begriff, dass ich mich durch mein einsames Grübeln im Kreise drehte und nichts als meine eigenen Gedanken kannte. Ich merkte, dass Einsamkeit etwas sehr Trauriges ist.
    Allein sein fühlt sich an, wie an einem regnerischen Abend an der Mündung eines großen Flusses zu stehen und zuzuschauen, wie das Wasser unaufhaltsam ins Meer strömt. Hast du schon mal an einem verregneten Abend an der Mündung eines großen Flusses gestanden und zugesehen, wie das Wasser ins Meer fließt?«
    Rübe antwortete nicht.
    »Ich schon«, sagte ich.
    Rübe sah mich mit großen Augen an.
    »Ich weiß nicht genau, warum man sich so einsam fühlt, wenn man sieht, wie das ganze Wasser aus dem Fluss sich mit dem Wasser des Meeres vermischt. Aber es ist so. Du solltest es mal ausprobieren.«
    Ich nahm mein Jackett und die Rechnung und stand langsam auf. Als ich eine Hand auf Rübes Schulter legte, stand er auch auf. Gemeinsam verließen wir das Café.
     
    Vom Café bis zu ihm nach Hause war es eine halbe Stunde zu Fuß. Wortlos trotteten wir nebeneinander her.
    Nicht weit vom Haus floss ein Bach, der von einer Betonbrücke überspannt war – eher ein breiter Wassergraben, der früher wahrscheinlich der Bewässerung von Feldern gedient hatte. Jetzt war das Wasser trüb und roch leicht nach Waschmittel. Man konnte nicht einmal erkennen, ob der Bach überhaupt floss. In seinem Bett sprossen Sommergräser, und ein weggeworfenes Comic-Heft lag aufgeschlagen herum. Rübe blieb auf der Brücke stehen, beugte sich über das Geländer und sah nach unten. Ich stellte mich neben ihn und tat das Gleiche. Lange standen wir so da und starrten hinunter. Wahrscheinlich wollte er nicht nach Hause. Ich konnte ihn verstehen.
     
    Rübe steckte eine Hand in die Hosentasche, zog einen Schlüssel hervor und zeigte ihn mir. Ein ganz normaler Schlüssel mit einem großen Plastikschild daran, auf dem »Lager 3« stand. Das musste der Schlüssel sein, den Wachmann Nakamura vermisst hatte. Wahrscheinlich hatte er Rübe kurz allein im Raum gelassen, worauf dieser den Schlüssel in der Schublade entdeckt und eingesteckt hatte. Was im Kopf dieses Jungen vorging, entzog sich meiner Vorstellung. Ein seltsames Kind. Als ich den Schlüssel in die Hand nahm, kam er mir klebrig vor und schwer von den Händen der

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