St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
die Wahrheit erzählte?
Die Antwort lag zu seinen Füßen. Seine Braut hatte bei ihrer Flucht die Blumen fallen lassen. Anatole bückte sich, um sie aufzuheben, und ärgerte sich darüber, wie seine Finger zitterten. Er erinnerte sich, wie Madeline ihn angestrahlt hatte, als sie ihm den Strauß hinhielt. Ihre Augen hatten geleuchtet, als sie von der Magie des Gartens sprach.
Während er die Blumen in der Hand hielt, fielen ihm Romans höhnische Bemerkungen wieder ein. Habt Ihr Eurer Braut schon einen Strauß überreicht? St. Leger kämpfte vergeblich gegen die Erinnerung an Deidre an. Sie hatte sich mit Blumen ausgekannt und aus den Blüten ein Elixier zu brauen vermocht, nach dessen Genuss ein Mann alles vergaß ...
Anatole hatte nie etwas mit den verdammten, besonderen Fähigkeiten seiner Familie zu tun haben wollen, aber dieses eine Talent hätte er gern genossen ... vergessen können.
Er rieb sich über die Nase und schloss die Augen, als die andere Erinnerung sich ankündigte ... St. Leger war wieder ein Kind ... an dem Tag, an dem er dem Verbot seines Vaters getrotzt und sich auf fremdes Territorium begeben hatte: in den mit goldenen und Rosentapeten ausgestatteten Salon, der ihm immer wie die Heimstatt der Engel erschienen war.
Jemand hatte die Tür offen stehen lassen, und er spähte um die Ecke. Da sah er sie, seine Mutter mit dem goldfarbenen Haar, die wie auf dem Engelsthron in ihrem Lieblingssessel saß. Mama war gerade mit einer Stickarbeit beschäftigt und bemerkte nicht, dass jemand gekommen war. Der kleine Anatole schaute ihr fasziniert zu.
Zum ersten Mal sah er sie nicht weinen. Das verlieh ihm zusätzlichen Mut. Leise trat er ein und sagte: »Mama?« Cecilys Kopf flog hoch, und alle Ruhe wich aus ihrer Miene. Abscheu stand jetzt in ihrem Blick, und sie zitterte am ganzen Körper.
»Halte dich von mir fern!«, zischte sie.
Zögernd streckte der Junge die Hand aus und zeigte ihr die Wildblumen, die er für sie gepflückt hatte. »Mama, die wollte ich dir -«
»Bleib weg!«, kreischte Cecily, sprang aus ihrem Sessel und versteckte sich hinter der hohen Lehne. Ihr Gesicht war nur noch eine Fratze der Angst. Der Knabe ließ die Schultern hängen. Er hatte ja gar nicht erwartet, dass die Mutter ihm erlauben würde, sie anzufassen. Genauso wenig, dass sie ihm durchs Haar fahren oder ihn an sich drücken würde, wie das andere Mütter bei ihren Söhnen zu tun pflegten.
Anatole hatte schon früh akzeptiert, dass etwas Schlimmes an ihm und er deswegen der Liebe seiner Mama nicht würdig war.
Dabei wollte er ihr doch nur beweisen, dass er nicht vollkommen böse war. Traurig blickte er auf seinen kleinen Strauß. Da der Junge ihr nicht näher kommen durfte, konzentrierte er sich wie nie zuvor. Der Strauß schwebte sanft durch den Raum. Die Mutter stieß einen gellenden Schrei aus und griff nach dem erstbesten Gegenstand - eine Kristallvase. Glas klirrte, seine Mutter schrie unaufhörlich ... Der Burgherr presste die Faust an die Schläfennarbe, bis er die furchtbare Erinnerung unterdrückt hatte. Er blickte nach unten und entdeckte, was er getan hatte. Seine große Faust hatte Madelines Strauß zerdrückt, und die Blütenkelche hingen schlaff herab. Hatte er wirklich geglaubt, er sei schon bereit, seiner Frau die Wahrheit aufzudecken? Nein, nun war es wichtiger denn je, sie vor seinen schrecklichen Geheimnissen zu bewahren.
Anatole brauchte mehr Zeit, um sich darauf vorzubereiten und sicherzustellen, dass sie nicht laut schreiend vor Entsetzen aus der Burg floh. Denn er wollte doch ...
Ja, was?
Ihr Herz gewinnen?
Erschrocken stellte er fest, dass genau dies sein Wunsch war. St. Leger lehnte sich an den Baum und lachte humorlos.
Nicht Madeline war es, die in einer Märchenwelt zu leben schien, sondern er selbst.
11
A m Ende des Ganges befand sich die Tür, umrahmt von einem steinernen Halbbogen. Das uralte Eichenportal schien das Zentrum von Geheimnissen und Aberglauben, von Brautsuchern, Familienflüchen und dunklen Mysterien zu verbergen, und Madeline fürchtete sich zum ersten Mal vor dem, was sie dahinter entdecken würde.
Ein Blitz zuckte jenseits der regennassen Fenster und beleuchtete das Wandgemälde oberhalb der Tür: ein Drache mit zinnoberroten ausgebreiteten Schwingen und gespreizten Klauen. Das Ungeheuer schien die junge Frau mit seinen goldenen Augen anzustarren und drohte, sie mit seinem Feuerhauch zu verbrennen, wenn sie sich nur einen Schritt näherte.
Als ein Donnerschlag
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