St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
ertönte, wäre Madeline beinahe aus ihren Schuhen gesprungen. Warum kehrte sie nicht in den Wohntrakt des Hauses zurück, bevor sie etwas anstellte, was sie zutiefst bereuen würde.
Aber sie hatte nicht den ganzen Tag Mut gesammelt und den Schlüssel gesucht, um jetzt umzukehren. Ihre Finger umklammerten den schweren Schlüssel. Sie musste sich beeilen, denn ihr Gatte war schon früh zu einer seiner rätselhaften Angelegenheiten ausgeritten und konnte jeden Moment zurückkehren.
Madeline warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter.
Halbdunkel herrschte im Gang hinter ihr, und draußen schien die Welt unterzugehen. Sie war allein; dennoch zögerte sie, den Schlüssel ins Schloss zu schieben. Warum bekam sie plötzlich ein schlechtes Gewissen und schämte sich dafür, Anatoles unwirschem Befehl zuwider zu handeln? Ja, warum? Sie wäre nicht zu einer solchen Maßnahme gezwungen, wenn der Mann sich nicht so angestellt hätte.
Seit der Begegnung im Garten war die Spannung zwischen ihnen offen zu Tage getreten und nicht wieder verschwunden. Madeline hatte eine unruhige Nacht hinter sich, weil sie ständig darauf gewartet hatte, dass Anatole in ihr Zimmer käme, um sich zu entschuldigen oder ihr eine Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten zu liefern. Und danach das zu tun, was sie sich sehnsüchtig wünschte.
Aber die Tür zwischen ihren beiden Kammern hatte sich nicht geöffnet.
St. Leger mochte ihr das Kristallschwert überreicht haben, aber Herz und Seele hatte er lieber für sich behalten. Bitter sagte sie sich, dass sie ihn noch kein bisschen zu verstehen gelernt hatte.
Ein Jahr und einen Tag durfte sie das alte Gemäuer nicht betreten! Was für ein Unsinn! Und was hielt er hier verborgen, das sie noch nicht sehen durfte? Skelette von Menschen, die er zu Tode gefoltert hatte? Geraubte Schätze? Diener, die über seine dunklen Launen den Verstand verloren hatten und hier angekettet worden waren?
Madeline rief sich zur Ordnung und verscheuchte solch alberne Gedanken. Wahrscheinlich würde sie hinter dieser Tür nicht mehr entdecken als das, was Anatole ihr gesagt hatte: Schmutz und Spinnen.
Und das Betreten hatte er ihr wohl nur aus einer dieser verdammten St.-Leger-Traditionen heraus verboten, weil er befürchtete, dass andernfalls irgendein Familienfluch ausgelöst würde.
Madeline hatte noch nie zugelassen, dass ihr Leben von irgendeinem Hokuspokus bestimmt wurde, und damit wollte sie auch jetzt nicht anfangen. Mit Logik und Verstand konnte man für alles eine Antwort finden - sogar für das Rätsel, das ihr Mann für sie darstellte. Doch als sie sich zum Schloss hinabbeugte, schien es in dem Gang merklich kühler zu werden, und sie glaubte, etwas hinter sich zu hören.
Zitternd widerstand sie dem Drang, sofort das Weite zu suchen. Wie konnten ihre Nerven sie nur so im Stich lassen können? Ihre Finger umschlossen den Schlüssel erneut, und -
»Madeline.«
Anatoles Stimme klang, obwohl er nicht laut sprach, gewaltiger als der Donnerschlag vorhin, und sie glaubte, das Herz wolle ihr aus der Brust springen. Wie unter einem Zwang stehend, drehte sie sich langsam um. Er stand genau dort, wo sich vorher nur Schatten befunden hatten, wie ein Phantom. Ein Blitz beleuchtete grell sein weißes Hemd, das regendurchnässte Haar und die harten Züge.
»Anatole, Ihr seid wieder da!«, rief sie und hoffte, sich nicht zu viel von ihrem Schrecken anmerken zu lassen. Den Schlüssel ließ sie rasch in den Falten ihrer Röcke verschwinden.
»Was sucht Ihr hier?«, fragte er leise, zu leise. So wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Als St. Leger auf sie zu kam, wollte Madeline fliehen. Aber sie konnte nirgendwo hin und presste sich gegen die Tür.
»Naja, ich ... ich ...«, stammelte sie und schämte sich dann, weil sie sich wie ein Schulmädchen anstellte, das erwischt worden war.
Die junge Frau riss sich zusammen und löste sich von dem eichenen Durchlass. »Ich glaube, Ihr wisst sehr genau, was ich hier suche.«
Anatole sagte nichts, streckte nur die Hand aus. Nach einem Moment des Zögerns händigte sie ihm den Schlüssel aus, starrte auf seine verschmutzten Stiefelspitzen und fühlte sich alles andere als wohl in ihrer Haut. Der Burgherr legte zwei Finger an ihr Kinn und hob ihren Kopf. Madeline machte sich auf eine wütende Schimpfkanonade gefasst, doch seine Augen blickten nur müde und traurig drein. Sie hatte ihn noch nie so ernst gesehen, und das machte ihr erst Recht Angst. Lieber hätte
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