St. Leger 03 - Die Nacht der Feuerfrau
alte Verletzung ließ Valentine humpeln. Heute Abend brannte sein kaputtes Knie noch schlimmer als sonst. Schon reichlich erschöpft von seinen eigenen Schmerzen, war es sicher nicht das Klügste gewesen, sich auch noch Carries Schmerzen aufzubürden.
Aber was hätte er sonst tun sollen?, fragte sich der Arzt und erinnerte sich an die eingesunkenen Augen der Hochschwangeren und ihre verzweifelten Worte: »Ihr seid der Einzige, der mir helfen kann ... der Einzige!« Wie oft schon hatte er diesen Satz von leidenden Menschen hören müssen? Die Erinnerung an flehende Blicke und durchdringende Schreie verfolgte den Arzt oft bis in den Schlaf und ließ ihn auch im Wachzustand nicht in Ruhe.
Unbewusst trieb er Vulkan an, so als könne er den inneren Stimmen davonreiten. Schon im nächsten Moment musste Valentine dafür bezahlen; denn die ruckartige Bewegung ließ neuen Schmerz durch sein Knie schießen. Valentine keuchte und atmete mehrmals tief durch, bis das Brennen sich in ein dumpfes Pochen verwandelt hatte. Und sein Pferd war eigentlich kaum von seinem gewohnten Trott abgewichen. Vulkan pflegte sein eigenes Tempo zu wählen. In seiner Jugend hatte es Tage gegeben, da hatte Valentine den ganzen Tag im Sattel gesessen und hatte sich dann noch die halbe Nacht mit seinem Bruder im Fechtkampf geübt. In jenen Tagen hatte er sich auch auf die besten Jagdpferde im Stall seines Vaters setzen können.
Doch die Erinnerungen an die alten Zeiten rief Bitternis und Bedauern hervor. Und der Arzt gestattete sich niemals, sich über all das zu grämen, was er verloren hatte. Er hielt solche düsteren Empfindungen tief in einer der hintersten Ecken seiner Seele verschlossen; denn nirgendwo anders gehörten sie hin.
Als Vulkan um die nächste Ecke bog, ging seinem Reiter das Herz auf: Beim Anblick seines Ziels verflog ein gut Teil seiner Müdigkeit. Eine dichte Reihe Eichen versperrte den Blick auf die neueren Flügel von Burg Leger, aber die Zinnen des alten Teils ragten hoch über den Wipfeln auf. Seit vielen Jahrhunderten stach der Hauptturm weit in den Himmel hinein. Das alte Gemäuer hatte dem ersten Burgherrn, Prospero St. Leger, als Zuflucht gedient. Unter dem verwitterten Turmdach hatte der notorische Zauberer seine schwarze Magie bewirkt und sich an alchimistischen Experimenten versucht, die schließlich seinen Untergang bewirkt hatten. Man hatte den Schwarzmagier auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Ammenmärchen, so tat man heute die Geschichte vom Stammvater der St. Legers ab. Doch Valentine hatte gründliche Forschungen betrieben und dabei festgestellt, dass diese Sage mehr als nur das sprichwörtliche Körnchen Wahrheit enthielt. Fast könnte man meinen, alles habe sich wirklich genau so abgespielt.
Historische Fakten, Sagen und Märchen bildeten die Substanz von Castle Leger, und man erzählte sich hier Geschichten über Ruhmestaten wie über Zauberkräfte. Wie oft schon war dem Arzt beim Anblick dieser stolzen Mauern die Brust geschwollen, wenn er in der Dämmerung nach Hause geritten war. Für gewöhnlich ritt Lance vorneweg und Val, sein jüngerer Zwillingsbruder, gemächlicher hinterdrein.
Valentine war immer schon der Vorsichtigere von beiden gewesen, der Gelehrte u nd der Träumer. Es ließ sich nun einmal schlecht miteinander vereinbaren, im gestreckten Galopp über Stock und Stein zu reiten und den Kopf voll zu haben mit allen möglichen Büchern und romantisierenden Phantasien von vergangenen Zeiten ... Der Arzt stellte sich gern vor, er sei ein kühner Ritter, welcher auf seinem feurigen Ross zur Burg zurückkehrte, um vor der wunderschönen Burgherrin das Knie zu beugen, die ihn schon erwartete.
Bislang war es ihm noch nie möglich gewesen, in seinen Tagträumereien ihr Gesicht zu sehen - nur ihr sanftes Lächeln, den Glanz in ihren Augen und die schlanken weißen Arme, die sie nach ihrem Ritter ausstreckte, um ihn daheim willkommen zu heißen.
Irgendwann war er dann erwachsen genug geworden, um zu erkennen, dass es für einen Ritter in schimmernder Rüstung im modernen neunzehnten Jahrhundert nur wenige Betätigungsfelder gab. Da erschien es ihm wesentlich vernünftiger, Arzt zu werden. Und das ernährt ja auch seinen Mann, dachte Valentine seufzend und streckte seine müden und schmerzenden Muskeln.
In ihm würde wohl niemals jemand einen kühnen Ritter sehen; genauso wenig, wie man Vulkan als feuriges Ross bezeichnen konnte. Und was die sehnsüchtig wartende Dame auf der Burg anging ...
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