Stachel der Erinnerung
Und er war auch kein Mörder. Wie er das allerdings Tessa klar machen sollte, blieb ihm ein Rätsel.
Sie sah ihn unverwandt an. Mit einem Ausdruck, als wäre er im Besitz der Geheimwaffe, mit der man die Welt vor dem Untergang retten konnte. Oder zumindest ein arrogantes, junges Mädchen vor dem Tod.
Er drehte sich um und fluchte lautlos. Wie einfach war sein Leben doch gewesen, als Tessa ihn angesehen hatte wie ein giftiges Insekt, das man am besten unter der Schuhsohle zermahlte.
„Also, was willst du tun?“, bohrte sie weiter.
Verzweifelt suchte er nach einer Möglichkeit, nach einer Ausrede, aber als er sich schließlich zu ihr umdrehte, wusste er, dass er nicht lügen würde. „Ich kann ihn nicht so einfach töten“, sagte er langsam. „Ich habe noch nie jemanden getötet.“
Er wartete auf einen Wutausbruch, der nicht kam. Stattdessen fing Tessa an, im Raum auf und ab zu gehen. Als sie nach einer Weile vor ihm stehen blieb und ihn ansah, lag keine Verachtung, sondern nur Ratlosigkeit in ihrem Blick. „Gut. Du kannst ihn nicht töten. Aber was soll dann geschehen? Sollen wir zusehen, wie er Meldis abschlachtet? Kannst du das?“, fragte sie mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme.
Er seufzte. „Wo ist der Unterschied zwischen dem Mörder von Meldis und dem Mörder von Kaldak?“, fragte er ihm gleichen Tonfall zurück.
In ihrem Gesicht arbeitete es. Er konnte spüren, dass sie mit sich rang, aber er hatte keine Ahnung, worum es ging. In der Stille knisterte das Feuer ohrenbetäubend.
Tessa atmete tief durch. „Ich habe dir nicht alles erzählt, was ich gesehen habe, als Meldis ermordet wurde. Du erinnerst dich doch: Kaldak erwischte Meldis bei einer Aussprache mit Serre und tötete das Mädchen. Dann schnitt er ihr das Gesicht ab.“ Sie machte eine taktische Pause. „Aber ich habe dir nicht erzählt, was nachher passiert ist. Nachdem Serre wieder zu Bewusstsein kam und den toten, geschändeten Körper von Meldis sah, brach er zusammen. Als er wieder klar denken konnte, wollte er Meldis in seinen Mantel wickeln und zu ihrer Familie zurückbringen. Dazu kam es jedoch nicht, Arne erreichte die Hütte in eben diesem Moment. Kaldak war verschwunden. Arne sah Serre über den toten Körper seiner Tochter gebeugt, das Gesicht eine einzige blutige Masse, das Messer lag daneben. Er fragte nicht, er zögerte nicht.“ Tessa holte tief Luft. „Er stand hinter Serre, zog sein Schwert und schlug ihm den Kopf ab.“
fünfundzwanzig
Tessa war stolz auf sich, dass sie den letzten Satz ohne Stottern herausgebracht hatte. Sie hoffte, dass ihn diese Worte zum Umdenken brachten. Seine moralischen Skrupel in allen Ehren, aber sein Vergleich hinkte. Kaldak war ein undurchsichtiger Zeitgenosse, der vermutlich genug Dreck am Stecken hatte, um ein vorzeitiges Ende zu rechtfertigen. Meldis dagegen war ein unschuldiges junges Mädchen, das niemandem etwas getan hatte.
„Wenn Meldis stirbt, stirbt also auch Serre“, sagte er langsam und es war keine Frage.
„Ja.“
„Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“
„Ich … ich wollte dir keine Angst machen“, erwiderte Tessa.
Er wandte sich ab. „Arne glaubt also, dass Serre Meldis getötet hat.“
„Vielleicht. Vielleicht glaubt er aber auch nur, dass Serres Verhalten Schuld daran trägt, dass sie schließlich sterben musste. Und Kaldak konnte er nicht zur Rechenschaft ziehen, da er verschwunden war.“
„Wo ist er hin?“
„Ich weiß es nicht. Unmittelbar, nachdem Arne Serre den Kopf abgeschlagen hatte, kehrte ich zurück in meine Zeit. Ich konnte nichts mehr herausfinden.“
Nick ließ sich auf einen Hocker fallen und barg das Gesicht in den Händen. Er bot ein Bild von Ratlosigkeit und Verzweiflung. Tessa trat langsam auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Es muss eine endgültige Lösung sein“, sagte sie leise. „Alles andere bietet zu viel Spielraum für Abweichungen – das erleben wir ja gerade.“
Er schwieg noch eine Weile, dann schüttelte er ihre Hand ab und stand auf. Mit dem Rücken zu ihr lehnte er sich an einen Holzpfeiler. „Also besorge ich mir bei Kaldak ein Schwert, das mich unbesiegbar macht. Und töte ihn damit – sobald er es mir übergibt.“ Seine Stimme klang kühl, entschlossen und resigniert.
Tessa holte tief Atem. „Ja. Das ist eine gute Idee. Das müsste funktionieren“, sagte sie leise. Sie spürte, wie unglücklich er mit der Situation war, und zermarterte sich das Hirn, wie sie ihn
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