Stachel der Erinnerung
paar seiner Thesen zerpflückt. Darauf führte ich sein Verhalten zurück.“
Berit hob die Augenbrauen. „Sie haben sich an seinen in Stein gemeißelten Theorien vergriffen und haben die Begegnung mit ihm unversehrt überlebt? Ein wahres Wunder.“ Berit machte eine Pause. „Sie sind also tatsächlich Altphilologe?“
„Für Skandinavistik, ja.“
„Und was tun Sie dann hier? Ist es tatsächlich Ihre Berufung, Bettwäsche zu bügeln, Kjøttboller zu versalzen und unschuldige Urlauber zu quälen?“
Er schwieg eine Weile. Obwohl die Schwingungen zwischen ihnen die Aggressivität früherer Begegnungen verloren hatten, war er nicht bereit, so viel von sich preiszugeben. Also zuckte er mit den Schultern. „Manchmal teilt einem das Schicksal Karten zu und man versucht das Beste daraus zu machen.“
Er hielt ihrem Blick stand, aber natürlich hatte sie die Zurückweisung verstanden. Sie sagte nichts, sondern wandte sich wieder Tessa zu. „Glauben Sie, dass das Funkgerät wieder funktioniert?“, fragte sie schließlich.
„Das Unwetter hat sich nicht beruhigt.“ Noch immer trommelten die Regentropfen an die Schreiben, hie und da zuckte ein Blitz über den wolkenverhangenen Himmel. „Schätze, die Leitungen sind noch immer tot.“
„Könnte man mit dem Wagen zu einem Arzt fahren und ihn herholen?“
„Es gibt auf Bjørendahl seit über dreißig Jahren nur Dr. Ingarson, er hat Rheuma und bei dem Wetter bringt ihn nicht einmal der hypokratische Eid aus seinem Haus. Er flickt gebrochene Knochen und kuriert Grippe. Mit einer bewusstlosen Patientin wäre er meiner Meinung nach überfordert.“ Mit Astrid und ihrer Krankheit war er definitiv überfordert gewesen. Er schob die Erinnerung zur Seite und runzelte die Stirn. „Wir könnten sie natürlich zu ihm bringen, aber ich weiß nicht, ob es klug ist, sie zu bewegen.“
Er stand auf und legte seine Finger auf ihre Halsschlagader. „Der Puls ist kräftig, ihre Haut warm. Geben Sie mir die Taschenlampe.“ Er deutete auf das Nachtkästchen und Berit reichte ihm die kleine Stablampe. Er hob Tessas Lider hoch und leuchte direkt in ihre Augen. „Die Pupillen reagieren ebenfalls.“
„Was heißt das?“
„Dass ihr Zustand gut ist und die grundlegenden Hirnfunktionen intakt, soweit ich es beurteilen kann.“ Weil er es hasste, sich auf andere zu verlassen, hatte er sich elementare medizinische Kenntnisse angeeignet, als er Astrid kennen und lieben gelernt hatte. Er wusste, wie man Injektionen setzte, wie man Blut abnahm und wie man Zugänge für Infusionen legte. Trotzdem war das alles vergebens gewesen. Im entscheidenden Moment hatte er versagt, weil er nicht da gewesen war.
Berit nickte, ohne Tessas Hand loszulassen. „Wenn ich nur sicher sein könnte, dass sie keine Tabletten geschluckt hat“, murmelte sie.
Nick runzelte die Stirn. Es juckte ihn zu fragen, warum sie das getan haben sollte. Aber im Verlauf des nachfolgenden Gesprächs hätte er möglicherweise von der letzten Nacht und seiner Rolle darin berichten müssen. Und das war das Letzte, was er wollte. Denn zunehmend verstärkte sich sein Gefühl, die Zeichen falsch gedeutet zu haben, so eindeutig sie in der Situation selbst auch gewesen sein mochten.
„Ich sehe mal im Bad nach“, sagte er und stand auf.
Der Klappeimer war leer, bis auf einige Kleenex. Auf dem Waschtisch lagen ein paar Kosmetika. Vorsorglich unterzog er auch die Duschecke einer Prüfung, aber auch dort fand er keinen Hinweis. Zurück im Schlafzimmer, zog er alle Schubladen aus der Kommode und durchsuchte auch den Kleiderschrank. „Keine leeren Verpackungen, keine Fläschchen, keine Röhrchen. Nichts.“
„Danke.“ Ihre ungewöhnliche Sanftmut erstaunte ihn und langsam fragte er sich, ob ihre frühere Kratzbürstigkeit wohl die unmittelbare Reaktion auf seine kalte Gleichgültigkeit gewesen war.
Er nickte und ließ seinen Blick durchs Zimmer wandern. Die Maske lag noch immer auf dem Tisch. Nachdenklich nahm er sie und betrachtete sie.
„Die habt ihr vom Schiff mitgebracht?“
„Ja, gemeinsam mit silbernen Ketten, an denen Schellen befestigt sind. Sie müssen noch unten im Aufenthaltsraum sein.“
„Aber die Maske lag neben Tessa, als wir sie gefunden haben?“
Berit dachte nach. „Ja, richtig. Sie lag neben ihr. Ich habe mich noch nach leeren Tablettenstreifen umgesehen, aber da waren keine. Nur diese Maske.“
Nick hielt sich die Maske vors Gesicht und blickte durch die Augenöffnungen. Nichts geschah. Er nahm
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