Stachel der Erinnerung
kümmerte es ihn, ob Tessa Weinhardt jemals wieder aufwachte? Ob Berit Olsen Zeter und Mordio schrie, weil niemand etwas unternahm? Was kümmerten ihn das verzweifelte Selbstmitleid und die Racheschwüre in der Saga, die eine ruhelose Seele auf Papier hatte fließen lassen?
Er blickte auf die zusammengerollten Blätter. Warum hatte er sie überhaupt gelesen? Warum war er so dumm gewesen, zuzugeben, dass er sie verstand? Und warum hatte er seine Dummheit so weit getrieben, sich mit den Texten noch weiter beschäftigen zu wollen, um einen Hinweis zu finden?
Einen Hinweis worauf?
Er wandte sich ab und wollte zur Tür gehen.
„Bleiben Sie hier.“ Die Stimme klang leise und müde. Sie hörte sich überhaupt nicht nach den gewohnten befehlenden Unverschämtheiten an, die er von Berit Olsen kannte. Trotzdem blieb er nicht stehen.
„Bitte.“
Er hielt schon den Türknauf in der Hand. Der Mann, der er gestern gewesen war, hätte das Zimmer verlassen, ohne sich einmal umzudrehen. Er kämpfte mit sich, genau das zu tun. Und verlor.
Langsam drehte er sich um. Berit saß neben dem Bett und hielt Tessas Hand „Sie können die Blätter doch auch hier durchsehen.“
Natürlich konnte er, nur zog ihn das noch tiefer in die Angelegenheit hinein.
„Ich habe Angst. Angst, dass sie aufwacht und ich alleine mit ihr bin.“ Sie senkte den Kopf. „Und Angst, dass sie nie mehr aufwacht und ich alleine mit ihr bin.“
Kommentarlos legte er die Papiere auf den Tisch, nahm Tessas Notizblock von der Kommode und hob den Stift vom Boden auf. Dann setzte er sich.
Im Raum war es still wie in einem Grab. Nur das gelegentliche Rascheln des Papiers, auf das Nick seine Anmerkungen schrieb, unterbrach diese Stille. Neue Erkenntnisse brachte diese genaue Überarbeitung allerdings nicht. Es war das Lamento eines enttäuschten Liebhabers, der sich in Schuldzuweisungen und Drohungen erging. Die Rhetorik war zwar flüssig, aber ohne literarischen Wert. Kein Hinweis darauf, was mit Tessa geschehen war oder wie man sie aus ihrer Bewusstlosigkeit befreien konnte. Kein Hinweis, ob die Verse überhaupt etwas mit der ganzen Sache hier zu tun hatten.
Er sah zum Bett hinüber. Berit streichelte Tessas Gesicht und bewegte lautlos die Lippen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand wie Berit betete, aber möglicherweise war auch das nur ein Vorurteil.
„In den Papieren steht nichts, was uns weiterhelfen kann“, sagte er und versuchte so ausdruckslos wie möglich zu klingen. Berit presste die Lippen aufeinander und nickte. Da sie nichts erwiderte und auch keine Anstalten machte, in einen Wutausbruch zu verfallen, stand er auf und schob den Stuhl neben ihren.
Sein Blick fiel auf Tessas unbewegliches Gesicht. Ein Gesicht mit Ecken und Kanten, das nichts Einschmeichelndes besaß. Gerade Brauen zogen sich über helle Haut und bildeten eine Parallele zu ihrem Haaransatz. Ihre Nase war ebenso gerade und der Mund ein schmaler Strich. Auch die eckige Form des Kiefers und des Kinns passten dazu. Kein friedliches Gesicht, sondern verkniffen und angespannt, was in seltsamen Kontrast zu der Tatsache stand, dass diese Frau bewusstlos war.
„Warum hat sie versucht, sich umzubringen?“ Er hätte sich gerne vorgemacht, dass er nur fragte, um die Stille zu durchdringen. Aber beunruhigenderweise interessierte es ihn tatsächlich.
Berit wandte sich ihm zu und musterte ihn eine Weile prüfend. Er schien bestanden zu haben, denn sie entschloss sich zu einer Antwort. „Sie hatte eine schwierige Kindheit und eine noch schwierigere Jugend. Das hängt ihr bis heute nach. Ihr Vater war eine wissenschaftliche Koryphäe. Sie konnte seinen Ansprüchen nie genügen, außerdem gab er ihr die Schuld am Tod ihrer Schwester, seiner erklärten Lieblingstochter. Solange er lebte, versuchte sie seine Achtung und seinen Respekt zu gewinnen. Aber sie konnte es ihm nie recht machen.“ Sie schwieg, sichtlich in Gedanken versunken. „Seine Liebe stand ohnehin nie zur Debatte. Heinrich Weinhardt liebte niemanden – außer sich selbst. Er war ein wandelnder Eisberg, alle Menschen in seinem Umfeld litten unter psychischen Erfrierungen. Ich hatte das Vergnügen, ihm ein paar Mal zu begegnen. Er merkte gar nicht, was er Tessa antat.“
Nick hörte die Bitterkeit in ihrer Stimme und erinnerte sich an seine Begegnung mit Tessas Vater. „Ich habe ihn einmal getroffen, kann Ihre Worte also bestätigen. Allerdings dachte ich, dass es an mir liegt. Ich habe in meiner Diplomarbeit ein
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