Stachel der Erinnerung
Nach allem, was passiert war, wäre es nicht ungewöhnlich, wenn sie dauerhafte Schäden zurückbehalten hätte.
Sie sah, dass er sich bückte und die Maske aufhob, die sie von sich geschleudert hatte. Nur dass es keine Maske war, sondern ein Gesicht. Vor ihrem inneren Auge tauchte wieder das Bild auf. Dieses Bild, das sie bis zu ihrem letzten Atemzug verfolgen würde. Meldis, die leblos auf dem Boden lag. Kaldak, der neben ihr kniete. Ein blitzendes Messer in der Hand.
Kaldak, der mit einem blitzenden Messer Meldis Gesicht vom Schädel löste und nichts als einen blutigen Klumpen zurückließ.
Tessa atmete tief durch, um die aufsteigende Übelkeit zu bezwingen. Noch immer konnte sie nicht glauben, was sie da gesehen hatte.
„Bleib bei uns.“ Berits Stimme drang in ihr Bewusstsein. „Dass du mir nicht wieder ohnmächtig wirst.“
Mechanisch griff Tessa nach ihrer Hand und drückte sie beruhigend. „Keine Angst, ich werde nicht ohnmächtig.“
„Ich gehe nach unten, wenn etwas ist, können Sie mich über das Haustelefon erreichen.“ Nick ging zur Tür.
„Danke“, rief ihm Berit nach, aber er drehte sich nicht mehr um.
„Jetzt erzähl endlich, was passiert ist“, sagte sie zu Tessa, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
„Ich werde es dir erzählen, aber du wirst es mir nicht glauben. Ich habe eine Reise in die Vergangenheit gemacht. In die Zeit der Wikinger. Ich war im Körper einer Sklavin, die ihre Herrin auf der Flucht vor einer unerwünschten Ehe begleitet hat.“ Sie erzählte weiter und Berit hörte ihr gebannt zu. Als Tessa geendet hatte, schüttelte sie den Kopf. „Mein Gott, das ist einfach unglaublich.“
„Ja, ich weiß. Und ich suche noch immer nach einer Erklärung, wie das alles zusammenhängt.“ Sie machte eine Pause und zog die Brauen zusammen. „Damit kommen wir jetzt zu Hendrik und dir. Auch dafür suche ich noch eine Erklärung.“
Berit seufzte. „Ich wollte einfach, dass du mit eigenen Augen siehst, was Hendrik für ein Kaliber ist. Meinen Worten hast du ja nicht geglaubt.“
„Und da hast dich also auf dem Altar unserer Freundschaft geopfert“, sagte Tessa sarkastisch. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich weiß, worauf ich mich einlasse?“
„Ja“, entgegnete Berit gequält.
„Habe ich nicht auch mal das Recht auf einen On Night Stand?“, fragte Tessa unbeirrt weiter.
„Hast du. Aber du weißt auch …“
„Verdammt, ja. Ich weiß, aber ich will auch ein Stück Leben haben, verstehst du das nicht?“, schrie Tessa. „Ich will nicht immer zusehen, wie andere leben!“ Im selben Moment als sie diese Worte aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit meinte. Sie riss sich zusammen. Wie konnte sie sich soweit mit Alva identifizieren, dass sie das Mädchen in ihre Zeit mitbrachte?
Ärgerlich schwang sie die Füße aus dem Bett und Berit sprang hastig auf. „Du solltest liegen bleiben, vielleicht …“
„Ich habe Hunger. Ich habe Durst. Ich gehe hinunter und esse, bis ich platze. Ich hoffe, du gestattest mir das und frisst mir nicht aus lauter Freundschaft den Kühlschrank leer, bevor ich unten bin.“
Sie packte die herumliegende Jeans und einen Sweater und knallte die Tür des Badezimmers hinter sich zu. Zitternd setzte sie sich dann auf die Toilette. Sie war zwar wütend, aber sie fühlte sich wie gerädert. So lange hatte sie nach Möglichkeiten gesucht, hierher zurückzukehren, aber statt fröhlich oder zumindest dankbar zu sein, glich ihr Gemütszustand einem schwarzen Loch. Egal. Sie musste sich zusammennehmen und einen klaren Kopf bewahren. Eins nach dem andern. Mit fahrigen Bewegungen schlüpfte sie in die Jeans und den Sweater. Als sie die Badezimmertür wieder öffnete, erwartete sie, dass Berit beleidigt gegangen war. Aber sie saß auf dem Stuhl und erhob sich mit einem Lächeln, als ob nichts gewesen wäre. „Dann lass uns nach unten gehen und sehen, was Mister Wunderbar im Kühlschrank hat.“
Misstrauisch folgte Tessa Berit die Treppe hinunter. Der plötzliche Frieden irritierte sie, aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Die Küche war leer. Berit knipste die Beleuchtung an und ging zum Eiskasten. Mit Grandezza öffnete sie die Tür und lehnte sich dagegen. „Alles nur für dich“, sagte sie mit einer kleinen Verbeugung.
Tessa ignorierte sie. Stattdessen nahm sie Eier und Speck, und legte sie auf die Arbeitsfläche. Dann ging sie zur Tiefkühltruhe und nahm zwei Brötchen
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