Stachel der Erinnerung
Rand zurück, sondern schrieb von rechts an weiter. Das Ganze lief so schnell ab, dass das Auge kaum den Bewegungen folgen konnte.
Noch ehe Berit den Tisch umrundet hatte und hinter Daria stand, waren zwei Blätter vollgeschrieben, die sie achtlos zu Boden fegte. Berit bückte sich und hob sie auf.
Sie hatte Runen oder geheimnisvolle, unverständliche Zeichen erwartet, aber stattdessen bedeckten gotische, wie gemalt aussehende Schriftzüge das Papier. Die im Mittelalter niedergeschriebenen Wikingersagas ähnelten sowohl in Stil als auch in Sprache dem, was sie hier vor sich hatte.
Sie versuchte den Sinn dahinter zu verstehen, allerdings war sie keine Spezialistin für altnordische Philologie. Das war die Domäne von Tessas Vater gewesen. Die verschnörkelten Wendungen und blumigen Umschreibungen für die simpelsten Dinge des täglichen Gebrauchs war für sie von je her eine nervige Angelegenheit gewesen. Darin Schönheit zu entdecken, war ihr nie gelungen.
Angestrengt entzifferte sie die einzelnen Wörter und merkte nicht, dass sich Nick gebückt hatte und ebenfalls eines der Blätter aufhob.
„Weh mir, der ich keine Gerechtigkeit fand, nicht in meiner Welt und auch nicht in der anderen. Hört mich an, hört mich endlich an und gebt mir, was mir gehört.“
Berit starrte Nick an, der mit halblauter, nicht besonders ausdrucksstarker Stimme zu lesen begonnen hatte und dabei so mühelos klang, als lese er einen Artikel aus der Tageszeitung vor.
„Sie … Sie sprechen … altnorwegisch?“ Zu ihrer Verärgerung musste sie sich räuspern und in ihren Tonfall mischte sich nicht nur Erstaunen, sondern auch Bewunderung.
„Ich bin eben ein Mann mit vielen Talenten.“ Er reichte ihr die Blätter. „Kochen, Bügeln und die Rezitation von alten nordischen Sagas.“
Sie nahm sie jedoch nicht. „Wenn Sie Sagas ebenso gut rezitieren wie Sie kochen, dann sollte ich Sie wohl lieber nicht fragen, wie es weitergeht.“
Er zuckte die Schultern und legte die Blätter auf den Tisch. Darias Hand huschte noch immer über das Papier. Hendrik starrte sie vollkommen ausdruckslos an. Seine Gesichtsfarbe ähnelte der einer vergilbten Gardine.
Berit biss sich auf die Lippen. Sie musste wissen, was in den Papieren stand. Womöglich half es Tessa, wieder zu sich zu kommen. Gleichzeitig versetzte sie sich für diesen Gedanken einen mentalen Tritt. Sie fing tatsächlich an, das alles für bare Münze zu nehmen. Damit nicht genug, musste sie wohl oder übel Mister Unwiderstehlich bitten, ihr das Geschriebene zu übersetzen. Lieber hätte sie ihre Zunge verschluckt, aber trotzdem zauberte sie ein Lächeln auf die Lippen. „Niemand kann so schlecht rezitieren, wie Sie kochen, Nick. Lesen Sie bitte weiter. Es könnte schließlich wichtig sein.“
Zu ihrer Erleichterung machte er keine Bemerkung über ihre plötzliche Bekehrung, was paranormale Erscheinungen betraf, und ignorierte auch die Spitze gegen seine Kochkünste.
Mit schnellen Blicken überflog er das Geschriebene. „Jemand beklagt die Ungerechtigkeit der Welt, die Schlechtigkeit der Menschen und sein eigenes, bedauernswertes Dasein. Er fordert Rache, er fordert Gerechtigkeit, er fordert seinen Platz in der Gesellschaft. Er droht, er winselt, er jammert. In zahlreichen schlechten Versen, die keinerlei Abwechslung bieten und daher die Zuhörer kaum unterhalten werden. Als Skalden hätte man ihn mit faulen Eiern beworfen.“ Mittlerweile lagen schon wieder Blätter auf dem Boden und er bückte sich danach. „Auch hier nichts Neues. Er badet in Selbstmitleid. Beweint den Verlust seiner einzigen wahren Liebe und verspricht wieder Rache. Allen und jedem. Die vierte Tochter einer vierten Tochter…“ Er brach ab, da Daria aufschrie und samt dem Stuhl nach hinten kippte. Mit weit aufgerissenen Augen blieb sie liegen. Ihr Atem ging so flach und hektisch, als hyperventiliere sie.
Berit packte eine neben dem Bett liegende zusammengeknüllte Plastiktüte und hielt sie ihr über Mund und Nase. Die Atemzüge wurden langsamer. Darias Augen schlossen sich und Berit nahm die Tüte wieder weg.
„Ausgezeichnet“, murmelte sie. „Jetzt haben wir zwei bewusstlose Frauen.“
sechzehn
Nick legte Daria neben Tessa auf das Bett. Hendrik hatte sich soweit gefangen, dass er neben Berit stand und seine Gesichtsfarbe wieder halbwegs normal aussah. Dass er auch seine Sprache wiedergefunden hatte, bewies seine gemurmelte Äußerung: „Ich gehe auf mein Zimmer, ich fühle mich nicht
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