Stachel der Erinnerung
heraus, die sie auf dem Rost ins Backrohr schob.
Berit goss sich ein Glas Orangensaft ein und lehnte sich an die Spüle. Sie sagte nichts mehr, sondern sah Tessa beim Kochen zu. Sobald der Speck in der Pfanne schmurgelte, verteilte Tessa das verrührte Ei darüber und würzte mit Salz und Pfeffer.
Nachdem sie den Inhalt der Pfanne auf einen Teller geleert hatte, trug sie ihn in den Frühstücksraum und setzte sich an den Tisch. Berit folgte ihr, noch immer schweigend.
Tessas Blick fiel auf die Uhr an der Wand. „Wie spät ist es überhaupt? Wie lange war ich denn bewusstlos?“
„Du bist heute Morgen nicht zum Frühstück gekommen, darum hab ich nachgesehen. Und dich gefunden.“ Sie machte eine Pause. „Ich nehme an, es ist früher Abend.“
Tessa ließ die Gabel sinken. „Nicht einmal 24 Stunden?“, fragte sie fassungslos. „Aber ich war doch wochenlang mit Meldis unterwegs. Und hier ist kein ganzer Tag vergangen. Unfassbar.“
Sie aß weiter, aber dann machte es plötzlich klick und ihr Verstand rastete ein. Jetzt wusste sie endlich, was ihr an der Situation seltsam vorkam. Nicht nur, dass Berit ungewöhnlich schweigsam und verträglich war – sie hatte mit keiner Wimper gezuckt, als sie die Zeitreisegeschichte gehört hatte. Berit, die das Kristallgitter einer Schneeflocke analysierte, meisterhaft Schach spielte und einen Rubik’s Cube innerhalb von Minuten sortiert bekam, hatte sie weder verrückt genannt, noch war sie zum Telefon gelaufen und hatte die Männer mit den Zwangsjacken geholt.
Langsam legte Tessa die Gabel auf den Tisch. „Was ist hier passiert? Warum glaubst du mir? Warum schüttelst du nicht den Kopf und schiebst mir eine Packung Beruhigungstabletten rüber?“
Berit räusperte sich. „Nun ja, es sind tatsächlich einige Dinge passiert, während wir versucht haben, dich zurückzuholen, die … die … deine Geschichte völlig plausibel klingen lassen.“
Aus Berits Mund klang diese Feststellung in etwa so, als hätte Columbus behauptet, die Erde sei eine Scheibe. „Welcher Art waren diese Dinge?“, erkundigte sich Tessa im Plauderton.
„Daria hat irgendeinen Zauber veranstaltet, um deinen Geist zu kontaktieren. Oder so ähnlich. Nur ging das in die Hose, denn sie wurde von einer Wesenheit in Beschlag genommen, die ihr ihre Lebensgeschichte diktierte.“ Berit erzählte völlig trocken, als ob sie vom Meeting mit einem Museumsdirektor berichten würde und Tessa hatte Mühe, nicht zu lächeln. „Dieser Bericht befindet sich augenblicklich in den Händen unseres Mister Wunderbar, der den Inhalt überprüfen will. Auf den ersten Blick fand er keine Hinweise, die mit deiner Situation in Verbindung gebracht werden konnten. Er ist übrigens kein simpler Pensionswirt, er ist diplomierter Altphilologe für Skandinavistik.“
Tessas Lächeln gefror. Sie fühlte sich, als hätte ein Meteor neben ihr eingeschlagen. „Er ist … was?“
„Spezialist für alte nordische Sprachen“, sagte Berit im Tonfall einer bemühten Krankenschwester, die einem Patienten Haferbrei schmackhaft machen will.
Im Augenblick, als das Begreifen ihren Verstand überflutete, wünschte sich Tessa, dass sie der Meteor einfach erschlagen hätte. Sie befand sich mitten im Nichts, umgeben von unerklärlichen Ereignissen, von denen das normalste war, dass sie statt eines unterhaltsamen One Night Stands mit einem attraktiven Vertreter der Arbeiterschicht einen Quickie mit jemandem gehabt hatte, der praktisch die Reinkarnation ihres Vaters sein konnte.
Sie wusste nicht, ob sie lachen, weinen, schreien oder einfach nur tief durchatmen sollte. In Anbetracht von Berits sorgenvoller Miene entschied sie sich fürs Letztere. „Was macht er dann hier?“
„Das war ihm nicht zu entlocken. Er murmelte etwas vom Schicksal und Karten, und damit zurechtkommen.“
Tessa seufzte und nahm die Gabel. „Also hat mich Daria zurückgeholt. Wie hat sie das gemacht?“
„Du hörst nicht zu“, sagte Berit tadelnd. „Daria hat dich nicht zurückgebracht, sie war nach dem Niederschreiben der Leidensgeschichte dieser verlorenen Seele so fertig, dass sie sich hinlegen musste. Ich habe dich zurückgeholt.“
Tessa ließ die Gabel wieder sinken. „Du? Aber wie hast du das angestellt?“ Mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination sah sie Berit an, die bescheiden ihre Fingernägel betrachtete.
„Tja, ich habe dir die Maske aufs Gesicht gelegt. Keine halbe Stunde später warst du wieder unter uns.“
Die Maske. Beim
Weitere Kostenlose Bücher