Stachel der Erinnerung
sie wieder ab und betrachtete sie näher. Keine Verzierungen, keine verblassten Malereien.
„Geben Sie her.“ Berit streckte die Hand aus. „Ich will etwas versuchen.“
Sie wusste nicht, woher diese Idee gekommen war, sie tauchte einfach wie ein Blitzschlag in ihrem Kopf auf. Nachdem Nick ihr die Maske gegeben hatte, legte Berit sie auf Tessas Gesicht. Ihre Finger zitterten dabei.
Mit klopfendem Herzen starrte sie auf die bewegungslose Tessa. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Als die Sekunden zu Minuten wurden, verlor sich ihre Hoffnung, so vage sie auch gewesen war. Sie versuchte, nicht zu weinen, aber ihre Augen füllten sich dennoch mit Tränen. Sie wünschte sich so sehr, dass Tessa zurückkam.
Die Hand unter ihrer zuckte und Berit fuhr zusammen. Ungläubig blinzelte sie die Tränen weg. Tessas Finger bewegten sich leicht, fuhren über das Laken.
Berit sprang auf und wollte ihr die Maske vom Gesicht reißen.
„Nein.“ Nicks scharfer Ruf ließ sie innehalten. Unsicher sah sie ihn an. Auch seine Miene verriet Ratlosigkeit, ein sicherer Hinweis, dass er rein instinktiv handelte, ohne zu überlegen.
Sie blicke wieder auf Tessa. Ihr Brustkorb begann sich heftig zu heben, und zu senken. Der Atem kam in tiefen Stößen, die durch die Maske gedämpft wurden. Sie wurden unregelmäßiger und schneller, als liefe Tessa um ihr Leben.
Berit widerstand der Versuchung, sie an den Schultern zu packen und so lange zu schütteln, bis sie aufwachte. Tessa war bereits den halben Weg zurückgekommen, den Rest musste sie ebenfalls alleine bewältigen, so viel stand fest.
Sie merkte, dass auch Nick aufgesprungen war. Unbewusst tastete sie nach seinem Arm und hielt sich fest, dankbar in diesem Augenblick nicht alleine sein zu müssen.
Tessas Keuchen gipfelte in einem Schrei. Ihre Hand flog zu ihrem Gesicht und riss die Maske weg. Ihre Haut war noch immer blass, die Lippen gerade eine Nuance dunkler. Ihre weit aufgerissenen Augen irrten im Raum hin und her, als suchten sie einen Halt.
„Tessa“, flüsterte Berit mit vor Angst heiserer Stimme. „Tessa, hier bin ich.“
Der gehetzte Blick fokussierte sich auf sie. Die bleichen Lippen bewegten sich, aber erst beim dritten Anlauf waren die Worte verständlich. „Berit … mein Gott … ich habe nicht mehr geglaubt, dich wiederzusehen.“
Tessa streckte die Arme aus und Berit warf sich hinein. Sie heulte wie ein Schlosshund. „Und ich habe nicht mehr geglaubt, deine Stimme zu hören.“
Nachdem sie sich beruhigt hatte, richtete sie sich auf und sah Tessa an. „Erzähl, was ist passiert? Was hat es mit der Maske auf sich?“
Tessa zuckte zusammen. Ihr Blick bekam etwas Gehetztes und sie brach in hysterisches Lachen aus. „Die Maske?“ Sie kicherte wie eine Irre und ihr Blick verlor sich im Nichts. „Die Maske ist gar keine Maske. Die Maske ist ein Gesicht.“
siebzehn
Tessas Hals brannte wie Feuer. Sie räusperte sich. „Wasser, kann ich Wasser haben?“
Der Mann neben Berit verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Glas zurück. Er reichte es ihr, und als Tessa es nahm, fiel ihr Blick auf sein Gesicht. Der Aufschrei erstickte in ihrer Kehle, aber er musste das Glas samt ihrer Hand festhalten, um zu verhindern, dass sich der Inhalt aufs Bett ergoss.
Das grauenhafte Bild, das sich durch Jahrhunderte hindurch in ihr Gehirn gebrannt hatte, wurde durch ein anderes ersetzt. Und zwar durch einen Mann, der ein Kondompäckchen mit den Zähnen aufriss. Sie war tatsächlich wieder zurück.
Sie konnte ihn nicht ansehen und der Name wollte ihr auch nicht einfallen. Dagegen fiel ihr ein, wo sie Berit das letzte Mal gesehen hatte und womit sie da gerade beschäftigt gewesen war. „Wo ist Hendrik?“, fragte sie deshalb.
„Hat sich hingelegt“, murmelte Berit und senkte den Blick.
„Ohne dich?“
Berit malte mit dem Finger Ornamente auf das weiße Laken des Bettes. „Später Tessa, ich erkläre dir alles, wirklich. Aber das hat Zeit. Wichtiger ist im Moment, was mit dir passiert ist.“
Tessa sah sie mit einem durchdringenden Blick an und registrierte mit wohltuender Befriedigung, dass auch Berit rot werden konnte. Sie trank das Glas aus und reichte es dem Mann. Dabei schaffte sie es, ihn anzusehen. Die Augen. Diese ungewöhnlich hellen Augen bewirkten, dass sie sich erinnerte. Nick Dayton, der Inhaber der Pension, in der sie sich befand.
Die Sicherheit, mit der sie diese Feststellung treffen konnte, beruhigte sie in Hinblick auf ihren Geisteszustand.
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