Stachel der Erinnerung
besonders.“
Berit hob die Brauen. „Das tut wohl keiner von uns. Aber geh nur und erhol dich“, sagte sie gönnerhaft.
Hendrik nickte und verschwand, noch ehe Berits Augenbrauen wieder in Normalstellung zurückgekehrt waren. Sie seufzte und setzte sich zu Tessa aufs Bett. Automatisch griff sie nach ihren Fingern, die beruhigenderweise warm und lebendig waren.
Ihr Blick glitt zu Nick, der sich an den Tisch gesetzt hatte und sich mit den anderen Blättern beschäftigte. Dass er altnordische Texte lesen konnte, war im Grunde unglaublich. Sollte das mehr als ein Zufall sein?
Ihr Daumen streichelte Tessas Fingerknöchel. Womöglich hatte sich das Wikingerschiff in Luft aufgelöst, wenn sie das nächste Mal zum Fundort fuhren. Und sie lebten in einer anderen Dimension.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Was für ein Blödsinn. Sie musste zu ihrer angeborenen Logik und ihrem analytischem Denken zurückfinden. Für alles würde es letztendlich eine Erklärung geben, die sich mit naturwissenschaftlichen Werten messen ließ. Sie musste nur Geduld haben.
Von der Frau neben Tessa kam ein Stöhnen. Sie bewegte den Kopf hin und her und schlug dann die Augen auf. „Was ist geschehen?“
Nick trat zum Bett und hob die Blätter hoch. „Sie waren in Trance und haben etwas Ähnliches wie eine Wikingersaga zu Papier gebracht. Eigentlich ein Klagelied.“
„Ich kann mich an nichts erinnern.“ Daria setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. „Aber das ist immer so.“
„Wissen Sie, wer Ihnen diesen Text …“, er suchte nach einem passenden Wort, „… diktiert hat?“
„Nein. Der Geist, die Materie ist in mir und schaltet mein eigenes Bewusstsein aus. Ich habe währenddessen keinen Einfluss darauf, was passiert.“ Sie stand auf, streckte sich und massierte ihre Schläfen mit den Mittelfingern. „Warum muss ich mich danach nur immer fühlen, als hätte mich ein Laster überrollt?“
„Was ist mit Tessa?“, mischte sich Berit ein.
„Hat der Text nichts mit der ohnmächtigen Frau zu tun?“, erkundigte sich Daria mit gerunzelter Stirn.
„Nein.“ Nick schüttelte den Kopf. „Nicht soweit ich erkennen kann. Es geht um einen Mann, ganz eindeutig.“
„Seltsam. Ich habe mich völlig auf ihren Geist konzentriert, aber ein stärkeres Signal muss meine Suche irritiert haben. Eine Seele, die so verzweifelt ist, ein so großes Bedürfnis nach Mitteilung hat, dass sie alles überlagert. Gibt es einen Namen?“
„Bisher nicht, aber dafür muss ich den Text noch einmal Wort für Wort lesen. Um wirklich nichts zu übersehen.“
Daria ging zur Tür. „Gute Idee. Ich muss mich hinlegen, ich bin total erledigt.“
„Was sollen wir mit Tessa tun?“, fragte Nick, um Berit zuvorzukommen, die bereits den Mund geöffnet hatte, als sie begriff, dass sich die Frau anschickte, das Zimmer zu verlassen.
„Keine Ahnung.“ Daria zuckte mit den Schultern. „Lasst sie schlafen. Ich glaube nicht, dass sie im Augenblick in irgendeiner Gefahr schwebt. Vielleicht wacht sie ganz von selbst auf.“
Damit verließ sie den Raum. Nicks Finger schlossen sich fester um die zusammengerollten Blätter. Darias Antwort machte ihn wütend. Und diese Reaktion gab ihm zu denken. Mehr als die Séance und alles andere.
Er wurde in Sachen hineingezogen, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Seit er sich entschieden hatte, das Torget Sjøhus alleine weiterzuführen, hatte er mit seinem alten Leben abgeschlossen. Dinge berührten ihn nicht, sie glitten an ihm ab, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Er funktionierte, brachte einen Tag nach dem anderen hinter sich, ohne eine Erinnerung an Einzelheiten zu bewahren. Es war kein Leben, aber es war genau das, was er vor acht Jahren gewählt hatte. Im Torget Sjøhus fühlte er sich Astrid nahe, er hielt ihren Traum am Leben und damit sie selbst. Und nach dem Erlebnis von heute Morgen zu schließen, war ihm das besser gelungen, als er geahnt hatte.
Nichts, was in all der Zeit passiert war, hatte ihm eine Reaktion entlocken können. Unverschämte Gäste, betrunkene Halbstarke, Frauen, die sich ihm an den Hals warfen, endlose arktische Winter und Nächte, in denen es niemals Tag wurde. Er registrierte diese Dinge emotionslos, tat, was getan werden musste und blieb dabei immer einen Schritt von allem entfernt.
Darum verstand er nicht, warum es ihn wütend machte, dass Daria sich einfach aus dem Staub machte und die Frau in ihrem bewusstlosen Zustand ließ.
Was kümmerte es ihn? Was
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