Stachel der Erinnerung
Hafen fern. Die Worte des Tanstrømjarls fielen ihm ein und die Räder seines Verstandes begannen zu arbeiten. Sollte das heißen … „Ist es möglich, dass ein Komplott dahintersteckt? Dass Serre davon erfahren hat und für sein Schweigen mit Meldis’ Hand belohnt wird?“
„Ein Komplott? Wie meinst du das?“
Nick überlegte. Es gab nur eine halbwegs logische Erklärung, in Anbetracht dessen, dass es der Jarl war, der sich sein Schweigen erkaufen wollte. „Dass der Jarl etwas damit zu tun. Dass die Entführung vielleicht vorgetäuscht ist.“
„Aber die Boote haben wirklich gebrannt, ich habe es gesehen“, rief Tessa und setzte dann mit stockender Stimme hinzu: „Oh nein, du meinst, der Jarl hat seine gesamte Flotte anzünden lassen …“
„… um seine Frau loszuwerden“, ergänzte Nick. Er fuhr sich durchs Haar. „Wann ist das Fest zu Ende?“
„Es dauert drei Tage. Wenn ich mich richtig erinnere, ist heute der erste Tag …“ Sie brach ab. „Aber wenn du versuchst, die Entführung zu verhindern, dann brichst du dein Wort und Meldis wird dir nicht versprochen werden.“
Er schwieg. Sie hatte recht. Im Grund konnte er nur scheitern. Gelang es ihm, die Entführung und den Brandanschlag auf die Schiffe zu verhindern, war Meldis für ihn verloren und er hatte ein gegebenes Wort gebrochen. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass der Jarl im Vorfeld alles abstritt. Und er hatte nicht den geringsten Beweis für seinen Verdacht, nicht bevor die Entführung passiert war.
Ein Jarl war dort König, wo der wirkliche König nicht sein konnte. Eine derart gewaltige Anschuldigung dem Jarl gegenüber würde Serre nicht nur in Ungnade fallen lassen, man würde ihn auch aus der Gemeinschaft verstoßen und ihn all seiner Rechte berauben. Er wäre heimatlos und vogelfrei. Die schlimmste Strafe, die die Wikingergemeinschaft kannte. Und Meldis wäre für ihn verloren.
Trotzdem, er musste es versuchen. Ein Unrecht in diesem Ausmaß konnte er nicht ignorieren. Die rationale Stimme in seinem Kopf, die ihn unermüdlich darauf hinwies, dass diese Menschen an die 1000 Jahre tot waren, ganz egal, was er tat oder nicht tat, verdrängte er. Ebenso wie den Gedanken, dass ihn das alles nichts anging.
„Am Ende des dritten Tages sagst du?“, vergewisserte er sich.
„Ja.“
„Dann bleibt uns ja noch etwas Zeit.“ Er wollte die Tür wieder öffnen, aber Tessa hielt ihn am Ärmel fest. „Wenn heute der erste Tag ist. Aber das weiß ich nicht genau.“
„Das weißt du nicht genau?“ Verständnislos sah er sie an.
„Nein. Ich … hatte … eine Art … Erinnerungslücke“, sagte sie stockend. „Vom Abend des ersten Tages bis zum Nachmittag des dritten Tages. Ich weiß nicht, was da alles passiert ist.“
„Gut, das kann ich ja herausfinden.“ Er hielt den Riegel der Tür in der Hand, ließ ihn aber wieder los und wandte sich an Tessa. „Aber zuerst sag mir, was mit Serre und Meldis los ist. Und wer das Mädchen getötet hat und warum.“
Tessa ließ sich an der Hauswand nach unten gleiten, bis sie auf dem entlanglaufenden Holzsockel saß. Nick setzte sich neben sie.
In der Dunkelheit bekam die Stille doppeltes Gewicht und sogar die Zeit schien den Atem anzuhalten. Als Tessa schließlich zu sprechen begann, klang ihre Stimme angespannt. „Meldis wollte Serre nicht als Ehemann akzeptieren, aber weder ihr Vater noch der von Serre oder Serre selbst waren bereit, auf den Bund zu verzichten. In ihrer Verzweiflung kam Meldis auf die Idee, heimlich zu ihrer Schwester Solveig zu flüchten. Sie war überzeugt, dass sie dort freundlich aufgenommen und man sie beschützen würde.“
„Und? War es so?“
„So weit kam es gar nicht. Meldis zwang Alva, sie zu begleiten. Gemeinsam wanderten sie querfeldein durch Wälder, dabei hatten sie einen Streit und trennten sich.“ Sie seufzte. „An der Stelle fehlen mir wieder ein paar Mosaiksteinchen. Jedenfalls stand plötzlich ein Reiter vor mir und brachte mich zu seiner Hütte. Dort befand sich bereits Meldis. Ihr Bein war verletzt und der Mann hatte sich nicht nur um sie gekümmert, sondern sich auch auf die Suche nach mir gemacht. Sein Name ist Kaldak.“ Das Holz knarrte, als Tessa ihr Gewicht verlagerte. „Der Rest kam, wie es kommen musste. Sie verliebten sich ineinander, Meldis wollte ihr Leben in einer Hütte im Wald verbringen – mit Kaldak. Kaldak überschüttete sie mit Geschenken und versprach ihr die Ehe.“
Nick schwieg eine Weile. „Meinte er es
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