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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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wie eine Bogensehne. Alle rechneten damit, dass Serre etwas sagen und damit zur Tagesordnung übergehen würde. Doch nichts Dergleichen geschah und die Situation blieb unerquicklich. Deshalb war es kaum verwunderlich, dass sich einer nach dem anderen erhob, eine gute Nacht wünschte und den Tisch verließ. Als nur mehr Meldis und Tessa übrig waren, stand auch Serre auf. „Ich begleite dich nach Hause, Meldis.“
    Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern wies mit einer unmissverständlichen Geste den Weg. Tessa rieb ihre Oberarme. Ihr knurrender Magen war vergessen. Sie beobachtete, wie sich Meldis geziert erhob und auf ihren Umhang zeigte, damit ihn Alva ihr umlegte.
    Dann gingen sie alle drei schweigend durch die Nacht, Serre mit einer Öllampe in der Hand neben Meldis, und Tessa folgte ihnen. Im Gegensatz zum Vormittag lag eine spürbare Distanz zwischen den beiden und sie fragte sich, ob Meldis tatsächlich so abgebrüht sein konnte, ihre Reaktion auf das Gedicht mit voller Absicht derart verletzend zu gestalten. Aus einem einzigen Grund – um der Ehe mit Serre zu entkommen. Das fand sie noch schlimmer als hätte Meldis bei den gefühlvollen Worten tatsächlich nichts empfunden.
    Sie kamen endlich beim Haus an und Meldis neigte zum Abschied höflich den Kopf „Ich danke dir für diesen unterhaltsamen Abend, Serre.“
    „Ich habe zu danken“, entgegnete er kühl und fügte hinzu. „Alva kommt mit mir, ich habe für morgen etwas vorzubereiten und sie soll mir zur Hand gehen.“
    „Jetzt?“, entfuhr es Tessa. Sie war müde, sie war hungrig und sie hatte keine Lust auf eine Predigt – von wem auch immer. Sie wollte schlafen, wenn sie schon nichts zu essen bekam.
    Dieses eine Wort genügte, um Melidis mit sanftem Tadel in der Stimme sagen zu lassen: „Wenn Serre deine Hilfe braucht, dann hast du natürlich zu gehorchen. Ich komme auch ohne dich zurecht. Geh nur. Und sei leise, wenn du zurückkommst. Du weißt, ich habe einen leichten Schlaf.“
    Serre fackelte nicht lange, sondern nahm Tessa am Arm. „Gut. Wir sehen uns morgen, Meldis.“
    Sich aus dem schraubstockartigen Griff zu befreien, war ohne gebrochene Knochen nicht möglich, also stolperte Tessa hinter ihm her. Er stieß sie unsanft in ein dunkles Haus, stellte die Öllampe ab und schloss die Tür.
    Mit verschränkten Armen baute er sich vor ihr auf und sah sie finster an. „Und jetzt, meine Liebe, erzählst du mir alles, was du in den vergangenen Stunden angestellt hast.“
    Tessa räusperte sich unbehaglich. „Ich habe nichts angestellt. Ich habe lediglich versucht, Meldis deine sanfte Seite zu zeigen.“
    „Meine was?“
    „Du weißt noch immer nicht, warum Meldis Serre dermaßen ablehnt, oder?“, fragte sie und fing an, auf und ab zu gehen.
    Da er den Kopf schüttelte, berichtete sie ihm die ganze Geschichte und fügte abschließend hinzu: „Deshalb erschien es mir als gute Idee, Serre einen sensiblen, künstlerischen Touch zu geben, der seine Empfindsamkeit offenbart. Ich dachte, als Philologe musst du doch in der Lage sein, aus der Edda und anderen Sagas zu zitieren.“
    Er strich die widerspenstigen Zöpfchen hinters Ohr. „In den Sagas gibt es aber keine Liebeslyrik. Es sind Heldengesänge, das musst du doch wissen, Frau Doktor Tessa Weinhardt.“
    „So genau habe ich mich damit nicht beschäftigt.“ Sie betrachtete verlegen die Spitzen ihrer Schuhe. „Aber das, was du rezitiert hast, war doch ein Liebesgedicht? Hast du es dir selbst ausgedacht?“
    „Nein. So talentiert bin ich nicht.“ Er schüttelte den Kopf, was ihm die Zöpfchen wieder ins Gesicht fallen ließ. „Verdammt, morgen schneide ich mir diese idiotischen Dinger ab. Keiner hier trägt so etwas.“
    „Serre dürfte ein etwas eitler Zeitgenosse sein und ein Trendsetter noch dazu. Es trägt außer ihm auch keiner einen gestutzten Vollbart.“ Sie kicherte, aber ein kühler Blick brachte sie zum Schweigen. „Setz dich hin, ich werde versuchen, dich neu zu stylen.“
    Sie zog drei Wollfäden aus ihrem grob gewebten Umhang, während er sie argwöhnisch musterte. „Ein gut gemeintes Angebot, Nick. Kein Angriff auf deine Tugend“, spottete sie.
    „Gut gemeint ist das Gegenteil von gut getan“, belehrte er sie. „Und ich habe noch niemanden getroffen, bei dem diese Binsenweisheit eine höhere Trefferquote hat als bei dir.“ Aber trotz dieser Worte setzte er sich auf einen Hocker.
    Tessa trat näher. Sie fädelte die Wollfäden durch die Perlen an seinen Zöpfchen

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