Stachel der Erinnerung
nicht dazu, den Triumph auszukosten, denn er strich sich mit der Hand über den Bart und sah sie weiter durchdringend an. „Tja, das erklärt einiges. Und ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass du noch mehr durchgeknallt bist, als Berit angedeutet hat.“
Er fing ihre Hand ab, bevor sie ihn ohrfeigen konnte, und drückte sie nach unten. „Nein, meine Liebe, wir sind quitt. Und du weißt es auch. Lass es gut sein.“
Nicht der leichte Schmerz in ihrem Handgelenk ließ Tränen in ihre Augen steigen, sondern das Begreifen, dass es stimmte. Sie waren quitt. Egal, wie gedemütigt sie sich auch immer dabei fühlen mochte.
Mühsam riss sie sich zusammen. Sie wollte nicht vor ihm weinen. „War’s das oder haben wir uns noch etwas zu sagen?“, fragte sie leise.
Er schwieg eine Weile, ehe er antwortete. „Die Dinge laufen nicht so, wie ich möchte, dass sie laufen. Auf keiner Ebene. Aber ich werde nicht aufgeben. Morgen hole ich Meldis ab. Ich habe mich in der Umgebung umgesehen, es gibt ein paar idyllische Plätzchen hier. Nachdem du mir erzählt hast, was das Problem an Serre ist, kann ich vielleicht was daran drehen. Möglicherweise fallen mir auch ein paar lyrische Verse ein, die sie mehr begeistern als Hermann Hesse.“
Er lächelte, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Ich bringe dich nach Hause“, setzte er hinzu und Tessa war zu müde und zu erschöpft, um zu widersprechen.
Trotz ihrer Erschöpfung schlief sie schlecht. Immer wieder zog der vergangene Abend in ihren Gedanken vorüber und ihre Gefühle fuhren dabei Achterbahn. Zweifellos war es aufschlussreich gewesen und sie hatte ganz unglaubliche Dinge erfahren, aber inzwischen fragte sie sich, ob sie das alles wirklich hatte wissen wollen.
Sie mochte ihn nicht. Punkt. Zwar war er ihr mittlerweile nicht mehr unheimlich – ein sicheres Zeichen, dass ihre Nerven bereits abstarben. Aber er war in seiner Gesamtheit so ungreifbar wie eine Fata Morgana. Die Mosaiksteinchen, die sie von seiner Persönlichkeit zu fassen bekam, wollten einfach nicht zueinander passen, geschweige denn, ein klares Bild ergeben.
Er hatte einen akademischen Grad und vergrub sich dennoch im Nirgendwo. Laut seiner eigenen Aussage waren ihm Menschen gleichgültig, dennoch konnte er das Lieblingsgedicht seiner verstorbenen Frau rezitieren, die nach den Schilderungen seiner guten Taten zu schließen bereits eine geraume Weile tot sein musste.
Und jetzt brachte ihn ein Blick auf Meldis dazu, seine vorgefasste Meinung innerhalb weniger Augenblicke um hundertachtzig Grad zu drehen und sich wie eine Bulldogge in die Idee zu verbeißen, die Liebe des Mädchens zu gewinnen.
Im Grund sollte sie froh darüber sein, immerhin war es ihre Idee gewesen, auf diese Weise den Tod von Meldis zu verhindern. Doch wie Meldis sich verhielt, machte Tessa zunehmend wütend. Entgegen ihrer Versicherung, Serre eine Chance zu geben, erwog sie nicht einmal einen Wimpernschlag lang ernsthaft den Gedanken, seine Frau zu werden. Serre könnte sich in eine Mischung aus Erzengel Gabriel und Sir Lanzelot verwandeln, Meldis würde ihn nicht erhören.
Tessa seufzte. So schwierig hatte sie sich das Ganze nicht vorgestellt. Meldis war ein verwöhntes, aber gutmütiges Mädchen. Sie lachte gerne und viel und verstand auch Spaß. Nur in einem Punkt blieb sie unbelehrbar. Und dieser Punkt hieß Serre.
Nick kam am späten Vormittag und holte Meldis zu einem Ausritt ab. Tessa sah ihnen nach und machte sich dann daran, ihren üblichen Aufgaben als Sklavin nachzukommen. Den Raum zu fegen, die Feuerstelle zu reinigen, die Öllampen nachzufüllen, Wasser vom Brunnen zu holen, Gerste zu mahlen und Fladenbrot zu backen. Als sie damit fertig war, stand die Sonne bereits tief. Tessa setzte sich vors Haus, um zu rasten und an einem Fladenbrot zu knabbern, das sie in saure Sahne tauchte. Sie würde sich schlau machen, ob es hier getrocknete oder frische Kräuter gab. Damit konnte man sicher einen schmackhaften Dipp zubereiten und auch die restlichen Gerichte aufpeppen. In Arnes Haus hatte es getrockneten Dill, Petersilie, Kümmel, Senfkörner und Wacholderbeeren gegeben. Allerdings galt Zora auch als ausgezeichnete Köchin, die für ihre Künste hochgelobt wurde und weit bekannt war.
Tessa sah Nick mit Meldis langsam auf sich zureiten. Die Körpersprache der beiden sagte mehr als alle Worte. Meldis hielt sich gerade, und klopfte dem Pferd den Hals, ohne den Reiter neben sich zu beachten. Auf ihrem Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher