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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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husten und merkte, dass Serre sie mit gerunzelter Stirn ansah.
    „Entschuldigung“, murmelte sie heiser und versuchte wieder, ihm wilde, hypnotische Blicke zuzuwerfen. Wie gehabt erfolglos, denn er wandte sich an Meldis. „Die Skalden? Ja, es ist in der Tat schade, dass sie weitergezogen sind“, beeilte er sich zu versichern.
    „Vielleicht könntest du uns etwas vortragen?“
    Tessa schloss die Augen und hielt den Atem an. Sie konnte direkt hören, wie Serres Verstand einrastete. Und spüren, wie er sie in diesem Moment ansah. Also öffnete sie die Augen wieder und wurde von seinem durchdringenden Blick an die Hauswand gepinnt. Mühsam brachte sie ein zustimmendes Lächeln zustande und die heiseren Worte über die Lippen. „Eine Frau erzählte mir, dass du einmal für ihre kranke Tochter …“ Weiter kam sie nicht, weil ihr seine Blicke übermittelten, dass sie nie wieder Gelegenheit haben würde, ein flottes Schwätzchen mit den Einheimischen zu halten. Vermutlich überlegte er gerade, ob er sie einen Kopf kürzer machen oder sich damit zufrieden geben sollte, ihr bloß die Zunge herauszureißen.
    „Ich würde mich wirklich sehr darüber freuen, Serre.“ Meldis gurrte wie ein balzender Täuberich und legte ihre Hand auf Serres Arm.
    Alle am Tisch schienen den Atem anzuhalten. Die Männer, weil vermutlich der bloße Gedanke an einen Verse schmiedenden Serre alle ihre Körperfunktionen zum Erliegen brachte. Und die Frauen, weil sie wirklich gespannt waren.
    Serre blickte auf die zierliche Hand, die wie ein blasser Schmetterling auf dem Ärmel seines Hemdes lag. Dann hob er den Kopf und fixierte Meldis. Als er zu sprechen begann, bebte seine Stimme bei den ersten Worten leicht. So leicht, dass sich Tessa fragte, ob sie sich nicht täuschte.
    „Wenn du die kleine Hand mir gibst,
    Die so viel Ungesagtes sagt,
    Hab' ich dich jemals dann gefragt,
    Ob du mich liebst?
    Ich will ja nicht, dass du mich liebst,
    Will nur, dass ich dich nahe weiß
    Und dass du manchmal stumm und leis
    Die Hand mir gibst.“
    Die Stille war beklemmend. Über Tessas Rücken huschte eine Gänsehaut. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen berührenderen Moment erlebt zu haben. Nicht nur die Worte und deren Inhalt, sondern auch die Art, wie er die Verse vorgetragen hatte, war schlicht und einfach atemberaubend gewesen.
    Die Männer am Tisch starrten ihn an, aber er achtete nicht darauf, sondern schenkte seine ganze Aufmerksamkeit Meldis. Er wartete auf eine Reaktion, und nach einiger Zeit begriff sie das auch.
    „Nun“, sagte sie langsam, als müsste sie nach dem richtigem Wort suchen, „das war wirklich … nett.“
    Tessa spürte, wie eine Welle heißer Wut sie überrollte. Nett. Hatte Meldis ein Stück Holz in der Brust statt einem Herzen? Diese Zeilen besaßen für Serre eine tiefere Bedeutung, die jeder am Tisch gespürt hatte. Jeder, nur nicht Meldis. Sie musste die Empfindsamkeit eines Felsblocks besitzen.
    Damit nicht genug, nahm sie ihre Hand weg und griff nach dem Becher, als wäre gar nichts geschehen. Die Männer begannen alle gleichzeitig zu sprechen, lauter als notwendig, um den ganzen peinlichen Vorfall möglichst schnell vergessen zu machen.
    „Ich finde es wunderschön“, sagte da die Tochter des Schiffbauers. „Du musst wirklich sehr glücklich sein, Meldis, einen Mann wie Serre zu bekommen.“
    Statt einer Antwort lächelte ihr Meldis nur unergründlich zu und wandte dann den Kopf. „Tessa, ich habe Durst, schenk mir noch etwas Wasser nach.“
    Während sie den Becker wieder füllte, warf Tessa Serre einen schnellen Blick zu. Sein Gesicht wirkte wie erstarrt. Und erst jetzt sickerte die Tatsache in ihr Bewusstsein, dass nicht Serre gesprochen hatte, sondern dass die Worte direkt aus Nicks Herzen gekommen waren.

einundzwanzig
     
    Die anderen Sklaven brachten eine Schüssel mit in Honig eingelegten Walnüssen und einen Krug saurer Sahne. Sie füllten die kleinen Schüsseln der am Tisch sitzenden Gäste. Alle nahmen sich reichlich, nur Serre hielt seinen Löffel in der Hand, ohne ihn zu benutzen.
    Schließlich klopfte ihm einer der Männer auf die Schultern und sagte augenzwinkernd: „Serre, wenn du die Honignüsse nicht willst, ich nehm sie gerne.“
    Serre schob die Schüssel zu ihm hinüber und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Männer unterhielten sich gedämpft über die Aufgabenteilung beim Bau der neuen Schiffe, die Frauen aßen schweigend den Nachtisch.
    Die Stimmung an der Tafel war gespannt

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