Stachel der Erinnerung
und nahm sie dann nach hinten, um sie an einer Haarsträhne im Nacken zu befestigen, die sie unter seiner restlichen Mähne verbarg. „Das sollte eine Weile halten.“
Er beugte den Kopf nach vorne und warf ihn wieder zurück. Die Zöpfchen blieben, wo sie waren. „Sieht tatsächlich so aus, als hättest du recht.“
„Danke“, sagte Tessa trocken. „Also, wenn du dieses hübsche Gedicht nicht erfunden hast und es auch keine Skaldendichtung ist, wo kommt es dann her? Verzeih, wenn ich dich nicht unbedingt für einen Mann halte, der für jede romantische Gelegenheit den richtigen Vierzeiler parat hat.“
Seine Hand, die locker auf dem Knie gelegen hatte, schloss sich zu einer Faust. „Hermann Hesse hat es geschrieben. Es war das Lieblingsgedicht meiner Frau.“ Er stand auf und drehte sich zu ihr um. „Es steht auf ihrem Grabstein.“
Das Lächeln gefror auf Tessas Gesicht. Mit allem Möglichen hatte sie gerechnet, aber damit nicht. Sie wusste nicht genau, was sie mehr entsetzte – dass er eine Frau hatte oder dass sie tot war.
Objektiv betrachtet war Nick das Paradebeispiel des einsamen Wolfs. Ohne wirkliche Bezugspunkte im Leben, ohne Ziele, ohne Sentimentalitäten. Ein Mensch, der losgelöst von allen Verantwortlichkeiten nur für den Augenblick existierte. Wenn man einmal von hungrigen Mardern absah. Und jetzt stellte sich heraus, dass er Bindungen und Sentimentalitäten in einem Ausmaß besaß, wie nur wenige Menschen, die sie kannte.
Schließlich fing sie sich und murmelte unbeholfen: „Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.“
„Ja, das glaube ich“, antwortete er und in seinen Worten schwang mehr als nur ein Hauch von Zynismus mit.
Tessa runzelte die Stirn. „Warum soll es mir nicht leidtun? Was willst du mir damit sagen?“
„Dass du eine Heuchlerin bist. Ich bin dir gleichgültig, du magst mich nicht. Warum sollte dir also irgendetwas, das mit mir zusammenhängt, leidtun?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn böse an. „Vielleicht, weil ich kein gefühlloser Klotz bin? Weil ich nicht möchte, dass Menschen leiden müssen – nicht einmal Menschen, die ich nicht mag.“
Aber er hatte recht. Im Moment war ihr Mitgefühl auf Hausstaubmilbengröße zusammengeschrumpft. Und dass er recht hatte, ärgerte sie noch mehr. Mühsam suchte sie nach Worten, aber er fuhr grob fort. „Sehr lobenswert. Aber absolut unnötig. Ich komme ganz gut zurecht, ohne falsches Mitleid.“
Damit gab er ihr ein Stichwort, an dem sie nicht vorübergehen konnte. Außerdem bekam sie damit möglicherweise eine Antwort auf die Frage, die sie zwar seit Langem beschäftigte, aber die sie sich unter normalen Umständen niemals trauen würde, zu stellen. „Ach ja, du kommst gut zurecht. Fickst du deshalb Frauen, von denen du nicht mehr als den Namen kennst?“
„Nur, wenn sie darum betteln.“
Tessa lachte ungläubig. „Wie war das?“
Er lehnte sich an einen Pfeiler und fuhr ohne Gefühlsregung fort. „Seit ich das Torget Sjøhus alleine betreibe, verirren sich immer wieder spärlich bekleidete Touristinnen zu nächtlicher Stunde in mein Büro oder versuchen sonst wie, meinen Weg zu kreuzen. Du warst nicht die Erste, die ein anderes Souvenir als ein paar handgestrickte Socken mit nach Hause nehmen wollte.“
Sie starrte ihn völlig fassungslos an. In hundert Jahren wäre sie nicht auf eine solche Erklärung gekommen. Konnte das wahr sein? Sextourismus auf einer Insel im Eismeer? Andererseits, Animateure in diversen Ferienklubs beklagten sich für gewöhnlich auch nicht übermangelndes, sehr persönliches Interesse der weiblichen Kundschaft. Sie waren auf ihre Art ebenso exponiert wie Nick als Chef des Torget Sjøhus. Und im Urlaub tat man ja öfters Dinge, die man in heimatlichen Gefilden nicht einmal eine Sekunde lang in Erwägung gezogen hätte. Seine nächsten Worte rissen sie aus diesen philosophischen Betrachtungen.
„Und ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, mir darüber Gedanken zu machen. Schließlich war ich früher Pfadfinder. Jeden Tag eine gute Tat. Manchmal auch zwei.“
„Was bist du für ein Schwein“, sagte Tessa heiser.
Er zuckte mit den Schultern. „Klar, ich bin das Schwein – und was bist du dann? Du vergisst eines, ich war dabei, ich weiß, dass du Sex wolltest.“
Trotz der Wucht des Schlages gelang es ihr, unbeweglich zu erscheinen und seinem Blick standzuhalten. „Ja, ich wollte Sex“, sagte sie völlig ruhig. „Aber nicht mir dir.“
Sie kam
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