Stachel der Erinnerung
...
mehr, als ich dir sagen kann.«
»Ich liebe
dich, Matthew« Jessie sah tief in seine blauen Augen und wünschte sich von
ganzem Herzen, er würde ihr sagen, daß auch er sie liebte. Sie wünschte sich,
er würde die Worte wiederholen, selbst wenn er sie nicht wirklich so meinte.
Sein
Adamsapfel hob und senkte sich. Sie dachte, er wolle etwas sagen, sie betete
darum, doch er starrte nur in ihr Gesicht, als wolle er es sich ganz genau
einprägen. Die wunderschönen Worte kamen nicht über seine Lippen, Matthew würde
niemals lügen.
Lange
Sekunden verstrichen. Schließlich beugte er sich vor und drückte ihr einen
sanften Kuß auf die Lippen. »Auf Wiedersehen, Jess. Paß gut auf dich auf.«
Die Sorge
um ihn und die Qual überwältigten sie fast. Tränen brannten in ihren Augen.
»Auf Wiedersehen, Matthew«
Er wollte
in die Kutsche klettern, doch dann hielt er für einen Augenblick inne und
wandte sich noch einmal um. Mit ein paar großen Schritten rannte er zu ihr und
riß sie in seine Arme. Sein Kuß war heiß, wild und besitzergreifend, so voller
Leidenschaft, daß ihre Knie weich wurden. Dennoch lag eine schmerzliche
Zärtlichkeit darin, und die Tränen, die sie so tapfer zurückgedrängt hatte,
perlten ihr jetzt aus den Augen.
Ohne ein
Wort gab er sie wieder frei, hastete zurück zur Kutsche und schloß die Tür
hinter sich. Dann klopfte er gegen das Dach, um dem Kutscher das Signal zum
Losfahren zu geben. Schaukelnd setzte sich die Kutsche in Bewegung.
Jessie sah
ihr nach, bis das glänzende schwarze Gefährt nicht mehr zu sehen war. Sie blieb
noch lange stehen. Ein frischer Wind war aufgekommen. Eisig fuhr er durch ihr
dünnes Kleid. Doch Jessie merkte es nicht. Die einzige Kälte, die sie fühlte,
war in ihrem Herzen – die eisige Angst, daß Matthew nie wieder zurückkehren
würde.
Reginald
Seaton stand an der Tür zu Jessicas provisorischem Schulzimmer. Die Kinder
waren schon lange weg, doch Jessica saß noch an ihrem Pult und starrte blind
vor sich hin.
So war sie
schon seit etwa zwei Wochen, seit dem Tag, an dem Matthew abgereist war. Daß
sie ihn liebte, war mehr als deutlich. Reggie hatte das sowieso von Anfang an
vermutet. Mit der Zeit, da war er ganz sicher, würde sein Sohn sie auch lieben.
Wenn er
diesen letzten gefährlichen Kriegseinsatz überleben würde.
In dem
Augenblick sah Jessie auf. Es freute ihn, daß sich ein Lächeln auf ihrem
Gesicht ausbreitete. Das hatte er in den letzten Tagen nicht oft gesehen.
»Ein Brief
ist für dich angekommen, meine Liebe. Aus London. Von deiner Freundin Lady
Gwendolyn, glaube ich. Offensichtlich ist Lord Waring mit seiner Familie noch
immer in der Stadt.«
Jessica
nahm den Brief und betrachtete den Poststempel. Sie erkannte die Schrift ihrer
Freundin auf dem Umschlag. »Ich habe ihr in
der letzten Woche geschrieben. Ich habe ihr berichtet, daß Matthew auf die Norwich zurückgekehrt ist. Eigentlich hatte ich erwartet, daß Lord Waring aufs Land
zurückkehren würde, nachdem die Saison zu Ende ist. Aber offensichtlich ist es
ihm damit nicht eilig.«
Reggie
wartete, bis Jessie den Brief überflogen hatte. »Ich hoffe, es ist nichts
Ungewöhnliches geschehen.«
Sie
lächelte. »Nur Gwens übliche Scherzereien. Sie schreibt, sie wünschte, ich wäre
in London. Ich nehme an, sie glaubt, daß ich ihr als verheiratete Frau einige
wertvolle Ratschläge geben kann.«
Er lachte
leise. »Ich will lieber nicht fragen, in welche Richtung diese Ratschläge
gehen sollen. Aber mir kommt da eine andere Idee.«
»Du
glaubst, ich könnte Gwen tatsächlich irgendwelche Ratschläge geben?«
Er lächelte
belustigt. »Das kannst nur du wissen. Mein Gedanke ist, daß es eventuell
einfacher für dich sein könnte, auf Nachricht von Matthew zu warten, wenn du in
der Stadt wärst.«
Jessica
blickte auf. »Du denkst daran, nach London zu fahren? Aber die Saison ist doch
vorüber.«
»Die
Jahreszeit macht dabei doch nichts aus. Es gibt immer interessante Ablenkungen
in London. Du hast ja kaum etwas davon gehabt, ehe du geheiratet hast. Sicher
würden Theater und Oper und vielleicht auch ab und zu eine Gesellschaft dazu
beitragen, die Zeit schneller vergehen zu lassen.«
Jessie
schüttelte den Kopf. »Ich könnte keine Freude haben, wenn ich weiß, daß Matthew
in Gefahr ist.«
»Die Gefahr
wird deshalb nicht geringer werden, wenn du hier in Belmore auf ihn wartest –
jeder Tag wird dir nur viel länger erscheinen, weil du hier müßig rumsitzt,
bis eine Nachricht
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