Stachel der Erinnerung
es lieber, genau wie
Euch, wenn diese Sache endlich erledigt wäre und ich mich wieder auf den Weg
nach Hause machen könnte.«
Graham
lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nach Hause ... ja. Ihr klingt wirklich
langsam genau wie ich. Das sind die Worte eines glücklich verheirateten Mannes.
Ich gebe zu, ich habe mich gefragt ...«
Matt zog
eine Augenbraue hoch. »Ihr habt geglaubt, es würde mir nicht gefallen,
verheiratet zu sein?«
»Ich habe
nicht geglaubt, daß Ihr Euch verlieben würdet.«
Matthew
schwieg lange Zeit. Mit gerunzelter Stirn sah er seinen Freund an. »Wieso
glaubt Ihr, daß ich mich verliebt habe?«
Graham
griente. »Ihr vergeßt, mein Freund, daß ich Euch schon so viele Jahre kenne.
Seit Eurer Rückkehr auf die Norwich habt Ihr mindestens ein dutzendmal
von Eurer Frau gesprochen, und das mit einer so großen Zärtlichkeit, wie ich
sie bei Euch noch nie erlebt habe. Wenn Ihr Euch tatsächlich noch nicht
verliebt habt, dann bezweifle ich nicht, daß es sehr bald passieren wird.«
Matts
Gesichtsausdruck wurde düster. »Mir liegt sehr viel an Jessica, ja. Ich fürchte
mich auch nicht davor, es zuzugeben. Aber Liebe?« Er schüttelte den Kopf. »Das
werde ich niemals zulassen.«
Graham
trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. »Ich habe meine Frau von dem
Augenblick an, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, geliebt. Das ist mehr
als zehn Jahre her. Und keine Sekunde davon habe ich bedauert. Jemanden zu
lieben macht einen Mann nicht schwächer, mein Freund. Wenn es die richtige Frau
ist, dann macht die Verbindung ihn stärker. Zusammen ist jeder von ihnen mehr
wert als alleine.«
Matthew
schüttelte den Kopf. »Vielleicht stimmt das. Aber es zählen auch noch andere
Faktoren. Jemanden zu liehen gibt einem keine Garantie, diesen Menschen nicht
zu verlieren. Ich habe meine Mutter verloren. Ich habe meinen Bruder verloren.
Ich habe Männer aus meiner Mannschaft verloren, die mir sehr am Herzen lagen.
Der Schmerz war beinahe unerträglich. Diese Art von Gefühl kann nur Leid
bringen. Das ist ein Risiko, das ich nicht einzugehen bereit bin.«
Der Doktor
betrachtete ihn nachdenklich. »Was ist mit Kindern? Eure Frau ist jung und
kräftig. Es wird ganz sicher Kinder geben. Die werdet Ihr doch bestimmt
lieben?«
»Natürlich
werde ich sie lieben. Ich würde meine Pflichten als Vater nicht erfüllen, wenn
ich das nicht tun würde.«
»Aber Ihr
werdet Euch zurückhalten. Ihr werdet nicht zulassen, daß Ihr sie zu sehr
liebt.«
Matthew
schwieg. Er hatte seine Mutter geliebt und hatte sie verloren. Er hatte seine
Stiefmutter geliebt, und auch wenn sie keine Zuneigung zu ihm entwickelt hatte,
hatte er bitter um sie getrauert, als sie starb. Er hatte liebgewordene Freunde
in der Schlacht verloren, und er hatte seinen Bruder verloren. Wie konnte er da
noch lieben?
»Ich gebe
ja zu, daß es ein Risiko ist, einen anderen Menschen zu lieben«, lenkte Graham
ein. »Eine Frau wahrscheinlich am meisten. Aber man wird dafür auch reichlich
belohnt.« Der Arzt lächelte. »Das Leben ist immer ein Risiko, mein Freund.
Genau wie im Krieg darf man sich nicht davor fürchten. Es ist ein schwieriger
Weg. Selbst mit einem Menschen, dem man vertrauen kann. Aber ganz allein ist
das Leben unerträglich.«
Noch immer
antwortete Matthew ihm nicht. Die Worte seines Freundes enthielten eine
Wahrheit, über die er noch nie nachgedacht hatte.
Außerdem
versuchte er mit dem beunruhigenden Gedanken klarzukommen, daß Graham Paxton
eventuell recht hatte – vielleicht war es ja bereits zu spät. Wenn er die
schmerzliche Sehnsucht nach Jessie fühlte, die Einsamkeit und den Schmerz, wenn
er an sie dachte – vielleicht stimmte es ja.
Vielleicht
liebte er sie ja bereits.
Gwen Lockhart warf einen Blick auf die
Uhr auf dem Kaminsims in ihrem Schlafzimmer. Es war neun Uhr. Ihre Mutter und
ihr Stiefvater waren an diesem Abend ausgegangen, doch sie hatte Kopfschmerzen
vorgeschützt, um sie nicht begleiten zu müssen. Sie wollte zu Hause bleiben,
hatte sie glaubhaft versichert, ein Kopfschmerzpulver nehmen und gleich ins
Bett gehen. Am Morgen würde es ihr dann sicher bessergehen.
Doch es war
nicht ihr Kopf, der hämmerte. Es war ihr Herz, und es hämmerte vor Aufregung.
Noch einmal
blickte Gwen zur Uhr. Dann schlüpfte sie in die modischen Kleidungsstücke ihres
Cousins Henry, dieselben Sachen, die sie auch schon im Fallen Angel getragen
hatte. Sie hatte sie ihm gar nicht zurückgegeben. Bei seiner reichen
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